Ob im Alltag, in Unternehmen oder in der Politik – wer im digitalen Raum unterwegs ist, steht vor einer zentralen Frage: Wie behalten wir die Kontrolle über unsere Daten, Technologien und Entscheidungen? In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Begriff „digitale Souveränität“.
Was versteht man eigentlich unter digitaler Souveränität?
Digitale Souveränität bedeutet, dass Menschen, Gruppen, Unternehmen oder Staaten selbst darüber bestimmen können, wie sie digitale Technologien nutzen. Für Unternehmen und Staaten geht es darum, kritische Infrastrukturen möglichst unabhängig und sicher zu betreiben. Für Privatpersonen heißt das: bewusst entscheiden, welche Apps man nutzt, welche Daten man teilt und wie man die eigene Privatsphäre schützt. Ganz allgemein geht es darum, sich in digitalen Räumen zu bewegen, ohne in zu starke Abhängigkeiten zu geraten. Dieser Anspruch ist weder einfach zu erfassen noch leicht einzulösen. Der Begriff ist normativ aufgeladen, seine Verwendung ist interessengetrieben und oft widersprüchlich.

Das hat wohl auch mit der Geschichte des Begriffs zu tun. Woher kommt der Begriff?
Der Begriff Souveränität kommt ursprünglich aus der politischen Theorie und der Rechtslehre und reicht zurück bis ins 16. Jahrhundert: Souveränität bedeutete zunächst die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung eines Territorialstaates. Die Frage ist, ob diese machtpolitische Haltung auf die digitale Welt übertragbar ist und wo die Grenzen liegen. Digitale Souveränität wurde ab den 2010er-Jahre verstärkt in der Öffentlichkeit diskutiert, als klar wurde, wie stark Privatpersonen, Unternehmen und Länder von großen internationalen Tech-Konzernen abhängig sind. Die Enthüllungen von Edward Snowden zu den Überwachungspraktiken der US-Nachrichtendienste 2013 waren ein Wendepunkt: Viele Menschen merkten erstmals, wie wenig Kontrolle sie über ihre Daten haben. Später führten Handelskonflikte und geopolitische Spannungen – etwa zwischen den USA und China – dazu, dass digitale Unabhängigkeit auch wirtschaftlich und politisch in den Fokus rückte. Weil der Begriff so unscharf ist, kann er in vielen Zusammenhängen und mit unterschiedlichen Interessen verwendet werden.
Die Unschärfe des Begriffs macht ihn also schwierig. Was trägt noch dazu bei?
Die Schwierigkeit ergibt sich aus der Beantwortung der Frage: Wer soll und kann in welchem Ausmaß und warum digital souverän sein? In China und Russland wird digitale Souveränität dazu verwendet, um staatliche Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung zu legitimieren. So verstanden, schlägt digitale Souveränität in Abschottung und Einschränkung von Freiheitsrechten um.
Die EU geht von einem anderen Konzept der digitalen Souveränität als ihrem Leitmotiv der europäischen Digitalpolitik aus. Hier werden europäische Werte hervorgehoben, zugleich spielen wirtschaftliche Fragen eine große Rolle. Wir importieren einen Großteil der IT-Infrastrukturen aus den USA. Gleiches trifft für KI-Modelle zu. Wie kann die EU unabhängiger von den marktdominierenden Big Tech werden? Das Konzept legitimiert eigene technologiepolitische Maßnahmen, die sich jedoch kaum völlig unabhängig von IT aus globalen Lieferketten realisieren lassen. Paradox auch, wenn reiche europäische Länder ihre wirtschaftlichen Abhängigkeiten von US-Konzernen beklagen, aber die Abhängigkeiten ärmerer Länder von westlicher Technologie und europäischen Standards nicht thematisieren.
Einzelstaaten und die EU verfolgen ihre digitale Souveränität. Was ist mit der digitalen Souveränität des Einzelnen?
Hierzulande wird diese stark betont, aber auch sie ist schwierig zu erzielen: Für Einzelpersonen liegt die größte Hürde oft darin, zu verstehen, was im Hintergrund passiert: Wer sammelt was? Was passiert mit meinen Daten? Vielen fehlt das Wissen, um bewusst zu entscheiden. Ich muss mir bewusst sein, dass ich nur wenig Kontrolle über die Datenflüsse meines Smartphones habe. Vieles geschieht ohne mein Wissen und Zutun. Datenschutztechniken können kompliziert sein und die bequeme Nutzung kommerzieller Angebote einschränken oder gar verhindern. In Zeiten von Big Data wird die Situation noch vertrackter: Wenn Menschen freiwillig beispielsweise auf Social Media ihre Daten veröffentlichen, können diese dazu genutzt werden auch Rückschlüsse auf mich und meine Vorlieben und Interessen zu ziehen – und dass obwohl ich selbst diese nicht freigebe. Ich kann mich gegen statistische Analysen von scheinbar belanglosen Daten nicht schützen oder digital verteidigen. Die digitale Resignation ist nicht weit. Hier darf man sich keine Illusion über die eigene Datensouveränität machen, sondern muss Aufklärungs- und Bildungsarbeit leisten.
Also geht es um die Förderung von Bildung in der digitalen Welt?
Bildung ist sicherlich ein wichtiger Hebel: Schon Kinder und Jugendliche sollten verstehen, wie digitale Systeme funktionieren, welche Interessen die Anbieter und welche Rechte sie selbst haben. Nur wer die Mechanismen kennt, die richtigen Fragen stellt und bewusste Entscheidungen trifft, kann selbstbestimmt handeln. Hier könnte man auch von digitaler Resilienz durch Bildung sprechen. Bildung bedeutet auch Offenheit, Unabschließbarkeit und kritische Selbstüberschreitung. Auf einer tieferen Ebene haben wir es somit mit einer widersprüchlichen Beziehung zu tun: Digitale Souveränität ist auf Kategorien wie Macht, Kontrolle und Schutz ausgerichtet – Bildung auf Erkenntnis, Offenheit und Freiheit.
Wie soll man mit diesen Widersprüchlichkeiten umgehen?
Indem man zunächst versucht, die beteiligten Diskurse zu sondieren und wichtige Begriffe zu klären. Im Rahmen von Projekten des Grimme-Forschungskollegs an der Universität zu Köln haben wir vor fünf Jahren begonnen, dazu ein Online-Glossar zur „Bildung für eine digitale Souveränität“ aufzubauen. In den Glossareinträgen finden sich neben Begriffsklärungen und Hintergrundinformationen auch Verweise auf passende Bildungsprojekte. Aus medienwissenschaftlicher, -rechtlicher, -pädagogischer und -ökonomischer Perspektive sind bislang viele interdisziplinäre Entwicklungsstränge entstanden.
Und was folgt daraus für die Stärkung digitaler Souveränität?
Klar ist, dass der Einzelne mit der Umsetzung digitaler Souveränität überfordert ist und dass dies ein übergreifendes gesellschaftliches Handlungsfeld darstellt. Die rechtlichen und technologischen Rahmenbedingungen müssen individuelles digital souveränes Handeln gewährleisten. Politik kann klare Regeln schaffen: zum Datenschutz, zur IT-Sicherheit und zur Förderung eigener Technologien – zum Beispiel europäischer Cloud-Lösungen. Unternehmen können prüfen, wo sie unabhängiger werden können: durch eigene Server, Open-Source-Software oder Kooperationen mit europäischen Partnern. Digitale Prozesse kennen keine Landesgrenzen, Gesetze aber schon. Das macht digitale Souveränität so komplex. Besonders wichtig erscheint mir die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Prozess zur Stärkung digitaler Souveränität. Im Prinzip geht es um die Anwendung unseres verfassungsrechtlichen Prinzips der Volkssouveränität auf die Digitalität. Hierzu sind die Einbeziehung und Beteiligung von Bürgerinnen und Bürger sowie von Institutionen der Zivilgesellschaft notwendig. Die Stärkung digitaler Souveränität ist ein fortwährender Prozess, der konkretisiert, operationalisiert und ständig hinterfragt werden muss.
Noch konkreter: Wie könnte digitale Souveränität in der Praxis gestärkt werden und welche Beispiele gibt es dazu?
Ein erster Schritt dazu wäre sich paradoxerweise von dem Begriff mit seiner Unschärfe zu verabschieden und konkret zu benennen, worauf sich die Stärkung bezieht: Wenn es um technologische Souveränität gegenüber den USA und China geht, dann sind europäische Fördermaßnahmen wie beispielsweise EuroStack oder Gaia-X oder der Ausbau der Halbleiterindustrie in Europa, etwa durch den EU Chips Act, in den Blick zu nehmen. Die Abhängigkeit von US-amerikanischen Betriebssystemen und digitalen Infrastrukturen ist bei uns sehr hoch und sollte ein politisches Umdenken in Richtung europäischer Open Source Lösungen nach sich ziehen.
Empirische Analysen zeigen, dass sich durch die Konzentration auf einige wenige Big Tech Konzerne die demokratiepolitische Brisanz von Kontrolle und mangelnde Vielfalt weiter zuspitzt. Die Forderung nach einer Zerschlagung von dominierenden Big Tech-Konzernen wird zunehmend demokratiepolitisch begründet. Jüngste Forderungen zur Rettung sozialer Netzwerke als demokratische Kraft aus der deutschen Zivilgesellschaft und von NGOs, wie beispielsweise die Petition der Initiative „Save Social“, haben konkrete Schritte zur Umsetzung vorgeschlagen: Sie reichen von der Stärkung alternativer Plattformen mit dezentralen Strukturen und offenen Standards, über die Einführung einer Digitalsteuer für sehr große Plattformen bis hin zu mehr Medienbildung. Auch diese und weitere Punkte könnten unter der Überschrift digitale Souveränität mit der Politik verhandelt werden.
Übergreifend geht es um den Aufbau einer digitalen öffentlichen Infrastruktur, eine Diskussion, die weltweit unter dem Titel „Digital Public Infrastructures DPI“ geführt wird: Gemeinsam genutzte digitale Systeme sollten sicher und auf offenen Standards und Spezifikationen beruhen, um einen gerechten Zugang zu Diensten auf gesellschaftlicher Ebene zu ermöglichen – im Sinne einer digitalen Grundversorgung. Über Soft- und Hardware sowie Regulierung hinaus, geht es dabei auch um einen offenen, demokratischen Diskurs über die Ziele dieser DPI. Der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk könnte ein Schlüsselakteur für die gemeinwohlorientierte digitale Infrastruktur werden. Zur Verbesserung und Entwicklung neuer Formen der öffentlichen Online-Kommunikation gibt es internationale Projekte wie den „Public Spaces Incubator“ unter Beteiligung von ARD und ZDF.
Insgesamt gilt, einzelne Maßnahmen greifen nur im Zusammenspiel mit anderen. Digitale Souveränität ist nur eine Überschrift für ein gesamtgesellschaftliches Projekt, das Bildung, Wirtschaft, Recht, Medien und Zivilgesellschaft gemeinsam gestalten müssen.
Wie geht es weiter – wird unsere digitale Souveränität zunehmen oder unter Druck geraten?
Wir leben in einer postdigitalen Welt, in der digitale Technologien wie selbstverständlich und unsichtbar in den Alltag verwoben sind. Mit KI, die sich in unsere Kommunikation einbringt, steigen das Ausmaß und der Druck weiter. Große Tech-Konzerne bauen ihren Einfluss weiter aus. Geopolitische Konflikte verschärfen die Abhängigkeiten. Blickt man zurzeit in die USA, dann wird ein libertär-technokratisches Verständnis von Souveränität von politisch einflussreichen Tech-Milliardären propagiert. Es liegt an uns, wie wirkmächtig unser deliberatives Verständnis von digitaler Souveränität bleibt.