Autor: Lukas Boehnke
Dieser Text will versuchen, verschiedene Perspektiven gesellschaftswissenschaftlicher Theorie zum Populismus zusammenzufassen und Bezüge zu exemplarischen Antworten politischer Erwachsenenbildung herstellen. Ich führe dabei an Beispielen die These aus, dass und wie in der Praxis politischer Bildung eine theoretische Ursachendiskussion zum Populismus gewissermaßen implizit oder explizit mitgeführt (und mit geführt) wird. In den Fußnoten wird auf weiterführende Literatur, auf Vorträge und Quellen zum hier oft nur kurz angerissenen Inhalt hingewiesen.
Das Erstarken von Populismus ist im Jahr 2020 ein bestimmendes Thema im Alltagsdiskurs vieler westlicher Gesellschaften geworden. In Europa und besonders in Deutschland ist dabei zumeist von dessen rechten Spielarten die Rede. Während populistische Akteure Mobilisierungserfolge zählen, wird das Phänomen von vielen etablierten Institutionen und neu gegründeten politischen Initiativen als Gefahr und Bedrohung für die Demokratie erkannt. Die liberale Demokratie scheint in einer Krise zu stecken, das Vertrauen in ‘die Politik’ ist vielerorts erodiert, viele Menschen fühlen sich von Parteien und Politiker*innen nicht wirklich repräsentiert; zugleich scheint die Möglichkeit einer erneuten Entwicklung oder Transformation der liberalen Demokratie in Richtung autoritärer Politik heute nicht mehr so abwegig, hat womöglich in manchen westlichen Gesellschaften bereits begonnen. Doch die Zukunft ist bekanntermaßen ein unbeschriebenes Blatt und es gibt keine Notwendigkeit der angedeuteten Entwicklung; im Gegenteil belebt der Aufstieg und die Diskussion des Populismus die politische Debatte und rückt bislang ungehörte Stimmen in den Fokus der Öffentlichkeit. Tatsächlich formiert sich als Antwort auf die politische Verschiebung nach rechts auch ein breiter und vielfältiger zivilgesellschaftlicher Widerstand, der auf den Straßen der Republik meistens in der Überzahl ist. Allerdings werden derzeit (Anfang 2020) auch anhaltend neue politische Anlässe produziert.
Einerseits wird im gegenwärtigen ‘populistischen Moment’ in Europa sichtbar, was unter der Oberfläche schon lange rumorte und über die letzten Jahrzehnte in seiner Kontinuität empirisch erforscht wurde: rechte und/oder autoritäre Einstellungen in der Breite der gesellschaftlichen Klassen, Schichten, Millieus, Parteiverbundenheiten, usw. Darüber hinaus kann immer wieder ein Verlust von Vertrauen in die Institutionen der demokratischen Gesellschaft festgestellt werden.1 Zugleich findet auch eine Auseinandersetzung statt mit der Pluralität politischer, ökonomischer und kultureller Bruchlinien, Widersprüche, Konflikte und auch Visionen. Krisenzeiten sind immer auch Entscheidungszeiten, in denen vergleichsweise wenig feststeht; sie können als Chance begriffen werden und dazu motivieren, Probleme zu bearbeiten und eigene Überzeugungen, eigenes Verhalten oder die Gesellschaft bewusst zu verändern. Rechtspopulistische Erfolge motivieren auch viele fortschrittliche politische Akteure, ihre politischen Positionen zu schärfen und die Auseinandersetzung zu suchen – vom ‘einfachen Bürger’ bis zur ‚großen Institution‘. Die meisten Institutionen und Organisationen der politischen Erwachsenenbildung haben das Thema Populismus spätestens seit 20162 fest auf die Tagesordnung gesetzt und bieten nach fünf Jahren eine Vielfalt kritischer Antworten an. Das ist aufgrund der in diesem Bildungsbereich besonders verbreiteten und theoretisch wie methodisch-didaktisch kultivierten Orientierungen auf Demokratie, Emanzipation und Aufklärung keine wirkliche Überraschung und zugleich eine politische Lage, die nicht selbstverständlich ist. Tatsächlich ist Bildung auch rechten und populistischen politischen Akteuren keinesfalls unwichtig. Sondern es gibt zahlreiche Bemühungen, um etwa mithilfe der AFD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung eine alternative Nationalbildung effektiver und professioneller zu organisieren und breiter zu streuen. Der Kulturkampf um die Deutungshoheit im gesellschaftlichen Diskurs läuft, auch und gerade im Bildungssektor.
Populismus – Begriff und Theorie
Das Wort Populismus ist heute zum ‘Allerweltsbegriff’ geworden und als solcher nicht unproblematisch. Neben der jahrzehntelangen Verwendung im gesellschaftswissenschaftlichen Diskurs als analytische Kategorie für eine bestimmte Form von Politik, wurde mit dem Wort „Populismus“ zuletzt vor allem eine Markierung bestimmter Politikstile und -inhalte betrieben, oft als Zurückweisung von unerwünschten (linken wie rechten) Positionen wider einen Konsens über den ‘alternativlosen Reformkurs westlicher Regierungen in Zeiten der Globalisierung’. Viele auch sehr unterschiedliche politische Inhalte wurden mit dem Populismusbegriff als illegitime, unrealistische, verkürzende, polarisierende und also defizitäre Abweichungen von liberaler Demokratie gerahmt. „Populismus“ wird in diesem Sinne als ein politischer und stark normativer Begriff verwendet, der im Alltag vor allem als verurteilende Fremdbezeichnung zu hören und zu lesen ist: Populisten sind scheinbar immer die anderen. Dabei fällt erstens häufig unter den Tisch, dass populistische Inhalte ganz offenbar auch ein Teil der liberalen Demokratie sind und auch von liberalen Akteuren als Strategie benutzt werden, etwa während politischer Darstellungen von ‘Volksnähe’ im demokratischen Wahlkampf: Viele demokratische Politikerinnen und Politiker stellen sich dann auch als mehr oder weniger ausgewiesene ‘Kenner’ des Volkswillens in Auftritt, Rede und Geste dar, ggfs. auch in anlassgemäßer ‘Verkleidung’ beim Karneval, im Bierzelt oder im Eingangsbereich einer Kohlegrube. Manchmal fallen auch liberale und demokratische Urheber von Populismusvorwürfen gerade im Moment des Vorwurfs selbst durch populistischen Stil auf. Ein moralisierender und theoretisch eher ‘hilfloser Antipopulismus’3 ist in dieser Hinsicht besonders anfällig, wenn und weil Populismus dann oberflächlich und als individuelle und persönliche Verfehlung thematisiert wird. Ausgehend von der Idee, dass Populismen der Demokratie völlig fremd seien, kann zum Beispiel das eigentlich ganz gute Volk im Bann einer Elite von ‘Rattenfängern’ gewähnt werden.
Moralisierende Populismusvorwürfe haben analytische Defizite insofern sie Populismus als defizitäres Phänomen verstehen. Sperrig wie sie klingt, ist diese These aber durchaus leicht zu verstehen:4 Mit einer typischen Identifikation von Populismus als Verkürzung, Polarisierung und Antipluralismus wird beispielsweise auf wichtige Merkmale des Populismus angespielt. In einer moralisierenden Interpretation werden die Merkmale aber erstens nicht in ihrer konkreten Bedeutung (zum Beispiel ideologietheroretisch) erforscht und auch nicht in einem sachlichen Vergleich von Identitäten und Differenzen liberaler Demokratie und Populismus bearbeitet, sondern als Ausdruck moralisch unpassender, unrealistischer und destruktiver Haltungen zurückgewiesen. Eine analytische Perspektive kann die thematisierten Merkmale zum Beispiel ideologietheoretisch mit dem populistischen Volksbegriff erklären und entscheidende Gemeinsamkeiten wie auch Übergänge von einer politischen Form zur anderen beleuchten. Es spricht vieles dafür, dass Populismus sich in der liberalen Demokratie und ggfs. aus ihr heraus entwickelt, ggfs. strukturelle Gründe in dieser Form von Gesellschaft und Politik hat. Darüber wird hinweggegangen, wenn Populismus vordergründig als Abweichung von (liberaler) Demokratie definiert wird. Die Bestimmung von Populismus als defizitäre Abweichung vom demokratisch Erwünschten hinterlässt dabei nicht nur theoretische Leerstellen, sondern kann auch strategisch kontraproduktiv wirken. Ein politisches ‚fighting fire with fire‘5 wirkt nicht wie ein kontrolliertes Gegenfeuer und entzieht dem Hauptbrandherd den Brennstoff an entscheidender Stelle. Auch weil gesellschaftliche keine Naturprozesse sind, kann eine ‘klare antipopulistische Kante’ im Rahmen populistischer Logik als Bestätigung oder Beweis für die eigene Position zitiert werden und populistische Ideen stützen.
Heute werden antipopulistische Reaktionen in vielen (Fach-)Diskursen weitaus kritischer diskutiert als zum Beispiel im Jahr 2016 und 2017, auch weil ‚Populismus‘ als Begriff womöglich verharmlosend wirkt. Exemplarisch argumentiert Wilhelm Heitmeyer es sei nicht ‚bloß Populismus‘, wenn Menschen gemeinsam für die radikale Marginalisierung und/oder Ausgrenzung bestimmter vermeintlich ‚volksfremder‘ Minderheitengruppen eintreten und damit vor allem eine ‚falsche‘ Elite und ‘kulturell unpassende’ Fremde meinen: hier können die Begriffe Autoritarismus, Nationalismus, Rassismus und Faschismus für die nötige analytische Klarheit sorgen.6 So überrascht es auch nicht, dass im schnellen öffentlichen Wechselspiel des Framings und Re-Framings die Bezeichnung „Populismus“ mittlerweile auch von rechtsradikalen oder -extremistischen Kräften als aufwertende Selbstbezeichnung angeeignet wird.7
Aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht spricht trotz der Verwendung als ‚Kampfbegriff‘ vieles dafür, dass es etwas relativ Eigenständiges und Relevantes gibt, das als „Populismus“ genauer beschrieben werden kann. Zugleich scheint es tatsächlich so zu liegen, dass nichts wovon die Rede ist ‘bloß Populismus’ ist. Zum Beispiel ist der beliebte politische Vorwurf, irgendetwas sei „reiner Populismus“, wissenschaftlich nicht haltbar und fördert eher Missverständnisse: Das Phänomen Populismus gibt es als ‘dünne’ oder ‘Bindestrich-Ideologie’ bzw. als politisch-strategischen Kommunikationsstil nur in Verbindung mit anderen Ideologien oder politischen Zwecksetzungen8
Die populistische Grundform des Politischen ist bestimmt von einem vorgestellten dichotomen Wertegegensatz zwischen einem homogen gedachten (guten, wahren, schönen, fleißigen, rechtschaffenen) Volk und einer homogen gedachten (bösen, egoistischen, korrupten) Elite. Das populistische Projekt besteht darin, diesen vermeintlichen Wertegegensatz zum Volke hin aufzulösen und dazu eine Politik und ein charismatisches Personal zu bemühen, die – oft als neuer elitärer Verbund – ganz und gar die angeblichen ‘Werte des Volkes’ verkörpern, den Volkswillen ausdrücken und die angebliche ‘Identität des Volkes’ von oben restaurieren. Anders als im Faschismus wird im Populismus eher nicht die repräsentative Demokratie im Prinzip abgelehnt, aber als ‘Herrschaftsform der Volkssouveränität’ zu Gunsten einer vorgestellten ‘Gemeinschaft der (ggfs. schweigenden) Mehrheit’ auch partiell auf Kosten des Minderheitenschutzes interpretiert. Auch im Hinblick auf den Umgang mit Binnenpluralismus gibt es in populistischen Strömungen zwar auch durchaus gewichtige, nicht mit liberalen Prinzipien vereinbare Einflussnahmen auf die öffentliche Meinung und teilweise auch Ausschlüsse von politischen Gegnern aus dem demokratischen Diskurs. Aber es geht eher nicht um eine umfassende und juristisch explizierte Gleichschaltung der öffentlichen, Bewegungs-, und/oder Parteimeinung und die Vernichtung von ‘Feinden des Volkes’. Erwiesen scheint heute aber, dass Faschist*innen in rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen eine politische Heimat finden können. Ohne die nötige Differenzierung aufzugeben ist zudem auch leicht vorstellbar, dass populistische Konstruktionen ohne größere Umwege zu faschistischen radikalisiert werden können.
Es gibt zur populistischen Konkretisierung des Volksbegriff keine theoretisch verdichtete Tradition und Ideengeschichte oder ‘große Vordenker’, in deren Tradition sich Populist*innen heute stellen, wenn sie erzählen, wer, was und wozu überhaupt ‘das Volk’ ist. Zur populistischen Bebilderung der nationalen Umwelt gehört die Vorstellung von einem ‘Heartland’, das im Sinne einer rückwärtsgewandten Utopie als abstraktes Vorbild für eine ‘neue Heimat des wahren Volkes’ in der Gegenwart und Zukunft angerufen wird. Erzählungen von einem ‘goldenen Zeitalter’ sind den meisten Populismen eigen und werden üblicherweise gegen klassische liberaldemokratische Fortschrittsnarrative gesetzt.
Die populistische Form bietet also für sich wenig bis gar keine konkreten politischen Inhalte, um die Kernbegriffe (Volk und Elite) zu definieren. In der populistischen Praxis wird ‘das Volk’ daher in allen Varianten und in allen Gesellschaften, üblicherweise unter Rückgriff auf lokale Mythen und Konventionen populistisch unterschiedlich bestimmt. Es scheint bei den verschiedenen Formen erfolgreicher politischer Populismen zudem ein „rätselhaftes Nord-Süd-Gefälle“ zu geben, das eventuell mit der politischen Ökonomie vor Ort erklärt werden kann: je nördlicher, desto rechter, je südlicher desto linker scheint der Populismus jedenfalls bisher.9
Heute ist in westlichen Demokratien, insbesondere in Nordeuropa, eine rechte, d.h. nativistische und autoritäre Variante des Populismus stärker.10 Diese Form geht in strikt nationalistischer Politik auf und will das nationale „Wir“ im Gestus einer Befreiung von kosmopolitischer mit identitärer Herrschaft vor ‘fremden’ Einflüssen von außen schützen. Darin wird ‘das Volk’ in vertikaler Abgrenzung sowie in horizontaler Abgrenzung gegen kulturell ‘unpassende Fremde’ definiert, oft auch mit Übergängen von nationalistischen zu rassistischen Unterscheidungskriterien. Phänomene wie Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland, die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien und die Politik der Präsidenten Chavez und Maduro in Venezuela gelten hingegen als Beispiele von linkem Populismus, in denen ‘das Volk’ zwar ebenfalls moralisch gegen ‘die Elite’ abgegrenzt und mit Narrativen einer ‘guten Eigentlichkeit’ überzogen, aber dabei nicht vordergründig als exklusive ethnische Gemeinschaft präsentiert wird. Der populistische Nationalismus kann auch ambivalent schillern, wenn traditionell ‘rechte’ und ‘linke’ programmatische Elemente ideologisch integriert werden, oder wenn rechte Akteure die politischen Potenziale des nationalen Wohlfahrtsstaates für sich entdecken und/oder eine eigene Kapitalismuskritik betreiben. An dieser Stelle können Theorien zum politischen und sozialpsychologischen Autoritarismus fruchtbar gemacht werden, um demokratische und nicht-demokratische bzw. liberale und illiberale Populismen zu unterscheiden.11
Weil die populistische Unterscheidung von Elite und Volk nicht analytisch, sondern im Kern eine normative und absolute Scheidung der politischen Welt in ‘gut’ und ‘böse’ ist, können auch Menschen, die nach vielen geläufigen Merkmalen Teil einer Elite sind, mit Populismus erfolgreich mobilisieren. Populismus ist überhaupt nicht mit einer grundsätzlichen Elitenkritik zu verwechseln und selbst häufig elitär.
Der normative und stark essentialistische, national-autoritäre Volksbegriff des Rechtspopulismus geht praktisch auf in einem politischen Alleinvertretungsanspruch: einzig Populist*innen beanspruchen ‘den wahren Willen des Volkes’ zu kennen, ggfs. als nationale Eigentlichkeit abstrakt von wirklich zählbaren (Wahl-)Ergebnissen oder andere Ausdrucksformen politischer Interessen. Populismen stellen sich so gegen den real existierenden politischen, ökonomischen, kulturellen Pluralismus der Interessen und einzelnen Communities in der Bevölkerung der Nation und gegen den Pluralismus von verschiedenen Interpretationen ‘des Volkes’ in der Demokratie. Populismen spielen zugleich mit Prinzipien und Ansprüchen, die auch in liberalen Demokratien anerkannt sind, wenn etwa politische Interessen und Ansprüche im Namen nationaler Überparteilichkeit, Volkssouveränität oder ‘Leitkultur’ formuliert werden. Auch hier kann also wieder kritisch diskutiert werden, wie, wann und wo aus dem Populismus in der Demokratie ein Populismus gegen die Demokratie wird.
Gesellschaftswissenschaftliche Ursachendiskussionen und politische Erwachsenenbildung
Entscheidend für die Frage nach gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten ist die mittlerweile breit geführte und in wohl jeder wissenschaftlichen wie politischen Auseinandersetzung zum Populismus mitschwingende Ursachendiskussion. Dabei besteht eine Verbindung zwischen der theoretischen Begriffsbildung und der Diskussion von Ursachen sowie gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten zum Populismus. Dies gilt gerade auch für politische Bildung, die in der Regel mehr sein will als eine sprichwörtliche „Feuerwehr“ im Einsatz gegen politische Gefahren: „Politische Bildung muss nicht Populismus bekämpfen, sondern seine Entstehungsursachen“.12 Folgend wird skizziert, wie verschiedene Hauptargumente aus der sozialwissenschaftlichen Ursachendiskussion in der Praxis politischer Erwachsenenbildung aufgegriffen werden. Als ‘politische Sozialwissenschaft’ kann politische Erwachsenenbildung besondere Beiträge zur demokratischen Verknüpfung von politischer Theorie und Praxis leisten und gesellschaftliche Entwicklungen in einer Beraterfunktion begleiten. Ohne eine formale Bindung an Lehrpläne können in diesem vielfältigen Bildungsbereich relativ leicht kritische, innovative, auch experimentelle Angebote politischer Bildung geschaffen werden. Die folgend beschriebenen Ansätze werden nach Themen geordnet: Zuerst geht es um demokratietheoretische Perspektiven auf die Veränderungen im demokratischen System in ‘Zeiten des Populismus’. Zweitens wird das Sozialwissenschaftliche Erklärungsmodell ‘Modernisierungsverlierer’ diskutiert, sowie im Anschluss sozialpsychologische Erklärungsansätze zum Populismus. Zum Schluss soll auf das Thema ‘Fake News und Fakten’ eingegangen werden. Zu allen Themen werden exemplarische Antworten der politischen Bildung skizziert. Die Zuordnung von Beispielen richtet sich nach deren vordergründiger Zielsetzung und ist nicht absolut zu sehen – es gibt viele Möglichkeiten, verschiedene Themen zu verknüpfen und das ist der grundsätzlich interdisziplinär ausgerichteten politischen Erwachsenenbildung üblich.
Demokratie in Bewegung
Mit Blick auf das demokratische System fassen manche politikwissenschaftliche und/oder demokratietheoretische Ansätze die Ursachen von Rechtspopulismus mit dem Verweis auf sogenannte ‘Repräsentationslücken’. Diese entstünden demnach, wenn zum Beispiel regierende Parteien (etwa in einer großen Koalition) zur politischen ‘Mitte’ drängen und die ‘Ränder’ nicht weiter beachten. Eine etwa seit den 1990er Jahren verstärkt diagnostizierte ‘Politikverdrossenheit’ in Kombination mit einem Verlust von Vertrauen in demokratische Institutionen, sowie eine sogenannte TINA-Politik13 werden in populistischen Mobilisierungen aufgegriffen, auch um daran demonstrativ Behauptungen über ‘alternative Fakten’ oder über eine ‘Alternative für Deutschland’ anzuknüpfen. Die Verknüpfung von politischer Enttäuschung mit der repräsentativen Demokratie wird besonders deutlich mit Blick auf die große Zahl populistisch mobilisierter ehemaliger Nichtwähler. Dies muss nicht nur als Gefahr interpretiert werden, sondern Populismus kann aus dieser Perspektive auch als Korrektiv in der Demokratie gedeutet und werden, durch das politische Probleme zumindest sichtbar werden.14 Die Diagnose einer Lücke impliziert ferner, dass etwas fehlt, was da sein sollte – die Argumentation wird auf diese Weise häufig benutzt, um die politisch Repräsentierenden kritisch aufzufordern, die Bevölkerung besser zu repräsentieren und die politische Bildung aufzufordern, die Bevölkerung einerseits empfänglicher für Repräsentation und andererseits offener für Partizipation an Repräsentation zu machen. Damit erscheint die repräsentative Demokratie letztlich nicht nur als Nullsummenspiel, in dem Repräsentation und Repräsentierte sich gegeneinander verschieben und im Verlauf immer wieder neu aufheben; sie erscheint auch leicht als unbedingt ‘gesetztes’ und ‘alternativloses’ Maß aller politischen Dinge, hinter das interessenbezogene politische Ziele und Inhalte zurücktreten.
Politische Erwachsenenbildung hat viele Möglichkeiten, die politischen Prozesse und sozialen Dynamiken aufzuklären und die tatsächliche Vielfalt und Komplexität demokratischer Angebote und Erfahrungen sichtbar und transparent zu machen, kontroverse Inhalte zu benennen und einzuordnen und den Gegenstand letztlich zur Beurteilung durch das Publikum freizugeben.
Politische Erwachsenenbildung ist im Regelfall auf die freiwillige Partizipation der Akteure angewiesen und tritt dabei nicht zwingend neutral auf, sondern legt ihre Positionen und Ziele offen – einerseits gegenüber Rechtspopulismus als Bedrohung der demokratischen Gesellschaft.15 So kann Politische Bildung Populismus nicht nur ideologietheoretisch aufklären und die Prozesse offenlegen, die zum Erstarken von Populismus führen, sondern auch Konsequenzen diskutieren, etwa mit Blick auf Regierungsstrategien des Populismus und solidarische Alternativen.16 Es gibt aber darüber hinaus verschiedene Stoßrichtungen und Elemente, die häufig aufgegriffen werden: Als allgemeine Demokratiebildung ist politische Erwachsenenbildung ein Diskussionsforum für eine Vielfalt von Positionen und Anschauungen. Sie kann mit sozialen Techniken die Kommunikation und Vernetzung in einer pluralistischen Demokratie zur allgemeinen Entwicklung von politischem Orientierungswissen und Verständnis für demokratische Prozesse fördern, sowie die allgemeine Partizipation und Bindung der Bürger daran. Außerdem kann politische Bildung auch politische Arbeit aus der Zivilgesellschaft beraten oder in diese eingebunden sein. Soziale Bewegungen betreiben meistens auch eine informelle oder non-formale politische Jugend- und Erwachsenenbildung, in der Ziele und Strategien vermittelt und weiterentwickelt werden. Umgekehrt thematisierte und förderte die politische Erwachsenenbildung soziale Bewegungen prinzipiell als demokratische Partizipation. Der Aufstieg des Rechtspopulismus mit PEGIDA in Deutschland warf dann bald auch Fragen auf über das Verhältnis von Politischer Bildung und dieser Form einer ‘Bürgerbewegung’; kontrovers diskutiert wurde und wird zum Beispiel die Einladung von PEGIDA-Vertreter*innen in die sächsische Landeszentrale für politische Bildung.17 Gleichzeitig wurden und werden Netzwerke zivilgesellschaftlicher Akteure und Bündnisse ‘gegen rechts’ im Zuge des Erstarkens von Rechtspopulismus nicht nur politisch stärker, sondern auch von Institutionen politischer Bildung mit bestimmten Kriterien stärker angesprochen und gefördert. Weitere relevante Fragen ergeben sich aus der Diskussion, welche Formate, Themen und Methoden für politische Bildung in der Migrationsgesellschaft angezeigt sind.
Eine aktuelle Tendenz ist die Diskussion von Visionen und Perspektiven für die nahe Zukunft der Demokratie, auch um der politischen Verschiebung nach rechts mittelbar entgegenzuwirken. Einerseits können Narrative gesellschaftliche Verfassungen und politische Problemlösungen oder innovative Organisationsformen von Demokratie diskutiert werden, die der Entwicklung von Rechtspopulismus vorbeugen – implizit kann das Publikum auf diese Weise auch etwas über die Ursachen von Populismus oder Extremismus in der Gegenwartsgesellschaft lernen, aus der heraus die Visionen ja entstehen. Zweitens soll auf diese Weise wieder verstärkt politisches Engagement nicht bloß ‘gegen rechts’, sondern für demokratische Ziele und für demokratische Veränderung von Gesellschaft kultiviert und eingeübt werden.18
Ferner kann politische Bildung das Entstehen von ‘Repräsentationslücken’ auch aufgreifen und versuchen, eine kritische Reflexion struktureller Ursachen im demokratischen System zu ermöglichen. So kann die Entstehung von Ressentiments auch mit systematisch produzierten Enttäuschungen der repräsentativen Demokratie erklärt werden.19 Diese Prozesse können zum Beispiel als ‘post-demokratische Verhältnisse’ thematisiert werden, in denen die Demokratie zunehmend ökonomisiert wurde und in denen politischer Erfolg oft davon abhängt, wieviel Geld ein Kandidat oder eine Kandidatin für eine Kampagne aufbringen kann und politische Entscheidungen im konkreten häufig von partikularen Interessen mittels Lobbyismus beeinflusst werden.20
Die populistische Moralisierung dieser Verhältnisse als Verrat oder Ausverkauf des ‘wahren Volkes’ durch eine ‘böse Elite’ mag ideologisch und unsachlich sein, aber sie findet leicht Bestätigung in Alltagserfahrungen, die nicht ohne weiteres zurückzuweisen sind, sondern ggfs. auf einen sozialwissenschaftlichen ‘wahren’ und/oder demokratisch ‘legitimen’ Kern geprüft und dazu aus verschiedenen Perspektiven diskutiert werden können. Wenn politische Erwachsenenbildung aber wirklich wirksam sein will, muss sie womöglich selbst den ‘Salto Mortale’ wagen und versuchen, die scheinbar unvermeidbare ‘Konfirmation der Konfirmierten’ zu überwinden und Menschen zu erreichen, die von sich aus nicht da hinkommen, wo politische Bildung üblicherweise stattfindet. Eine Verstärkung aufsuchender und niedrigschwelliger Bildungsarbeit an ungewöhnlichen Orten könnte dafür eine Lösung sein.21 Gleichzeitig muss demokratische politische Bildung auch bereit sein, ‘rote Linien’ zu ziehen in der Auseinandersetzung bzw. Begegnung mit menschen- und demokratiefeindlichen Positionen, um selbst kein Forum für diese zu bieten oder entsprechend instrumentalisiert zu werden, sowohl in einzelnen Veranstaltungen, als auch auf institutioneller Ebene.22
‘Abgehängte Modernisierungsverlierer’ als Anhängerschaft des Populismus?
Häufig ist im Kontext Populismus von ‘Modernisierungsverlierern’ oder ‘Abgehängten’ die Rede. Gemeint ist damit, dass rechtspopulistische Parteien vor allem von weniger Gebildeten mit vergleichsweise geringeren Einkommen gewählt werden, die eher in der Peripherie als in den ökonomischen Zentren ihr Auskommen suchen (müssen) und auf Nachfrage manchmal äußern, dass sie eine populistische Kraft vor allem aus Protest gegen die anderen Parteien gewählt haben. Nun gibt es viele Möglichkeiten, politischen Protest auszudrücken und es gibt auch eine gesellschaftliche Tendenz, aber sicher keine Notwendigkeit, aus einer wahrgenommenen eigenen Benachteiligung und/oder individuellen Krisenlage zum Schluss zu kommen, das ‘gute Volk’ werde von einer ‘bösen Elite’ ungerecht behandelt. Diese Tendenz muss beachtet werden, aber sie ist nicht aus der materiellen Lage motiviert. Gleichzeitig stoßen rechtspopulistische Angebote nämlich auch verstärkt im sogenannten ‘bürgerlichen Lager’, z. B. bei materiell gutsituierten Konservativen auf große Nachfrage, sowie in bestimmten Millieus und Berufsgruppen. So sind konservative Milieus populistisch eher ansprechbar, aber auch Menschen mit klassisch-modernen (noch) gut bezahlten Berufen, zum Beispiel in der industriellen Produktion.23
Der klassische und mit vielen Studien untermauerte sozioökonomische Erklärungsansatz, dass Armut/Ungleichheit zu antidemokratischen Tendenzen führe, wird empirisch herausgefordert. In der sozialwissenschaftlichen Ursachendiskussion ist daher als zweiter wichtiger Faktor für das Erstarken von Populismus ein sogenannter ‘cultural backlash’ etabliert. Häufig wird dabei auf einen subjektiv ‘zu schnell’ erlebten Wertewandel und/oder auf erlebte und vorgestellte Kulturkonflikte hingewiesen, die mit Sympathie für rechtspopulistische Angebote zusammenfallen.
Den genannten Gruppen wurde in den westlichen Gesellschaften der klassischen Moderne ein Großteil auch des ideellen Lohns in der veröffentlichten Meinung und besondere Anerkennung seitens der Politik zuteil. Tatsächlich ist die Geschichte westlich-liberaler Demokratien etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts von umfassenden gesellschaftspolitischen Flexibilisierungen und Liberalisierungen geprägt. Die politischen Strukturen und Repräsentationsangebote der großen Parteien wurden zugunsten der Entwicklung von Dienstleistungsgewerbe, Ökonomisierung und kulturelle Öffnung der Integration/Inklusion von vormals marginalisierten Gruppen (z.B. Frauen, Migrant*innen) umgestaltet. Dabei haben zahlreiche Umwertungen in der politischen Kultur der Anerkennung stattgefunden – ehemals marginalisierte Gruppen treten heute stärker in den gesellschaftlichen Leitbildern auf. Zeitdiagnostisch formuliert erleben wir womöglich die Entwicklung der industriellen Moderne hin zur post-industriellen Spätmoderne, mit ihrer von alten und auch neuen Konflikten und Kulturalisierungen des Sozialen gezeichneten Gesellschaft.24
Aus dem Gefühl, ungerecht behandelt und abgehängt zu werden, kann immer auch das Bedürfnis erwachsen, sich analytisch Rechenschaft über die gesellschaftlichen Verhältnisse abzulegen, in die der/die Einzelne gestellt ist. Politische Erwachsenenbildung kann versuchen, Lern-, Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten zu schaffen, in denen diese Verhältnisse transparent und kritisch dargestellt werden, ohne dabei populistische Abstraktionen und Themenverfehlungen selbst zu moralisieren. Interessant ist dabei die Frage, wie eine relevante Zielgruppe in transformativen Ansätzen ein individuelles Lerninteresse entwickeln kann.
Aufgrund der politischen, ökonomischen, kulturellen Situation in Verbindung mit einer emotionalen und ideologischen Gemengelage ist es wichtig und schwierig, im Umgang mit Populismus über die allseits ohnehin betriebene ‘Konfirmation der Konfirmierten’ hinaus individuelle Lernprozesse zu ermöglichen und zum Beispiel auf starke und harte Wahrnehmungskonstruktionen und Gefühlslagen von ‘relativer Deprivation’ vorbereitet zu sein. Die Aufklärung der Verhältnisse und Formen von Herrschaft, Ausbeutung, Armut und Ungleichheit der Gegenwart sind dabei ein wichtiges Thema für politische Bildung, gerade auch in der Auseinandersetzung mit kulturalisierten und kulturellen Konflikten zum Thema Migration. Weil politische Erwachsenenbildner*innen nicht nur ‚politische Sozialwissenschaftler‘, sondern im Idealfall auch soetwas wie „Experten für den Umgang mit Menschen“25 sind, sollte dem Gefühl der ungerechtfertigten Benachteiligung ‚ein Stück weit‘ abstrakt vom Inhalt und besonders auf der Beziehungsebene mit Akzeptanz, Verständnis und Sympathie begegnet werden, ohne eine intellektuelle politische Distanz und die inhaltliche Kritik aufzugeben. Der Umgang mit Emotionen und Affekten ist an diesem Punkt eine besondere Herausforderung für politische Bildung und wurde zum Beispiel auf dem Bundeskongress politische Bildung 2019 „Was uns bewegt“ thematisiert.26
Individuelle Praktiken und Urteile können methodisch und auf verschiedenen Ebenen adressiert werden. Gerade die niedrigschwellige Verknüpfung sinnlich-emotionaler Erfahrungen der Interaktion (zum Beispiel im Rollenspiel) mit einer analytisch-theoretischen Distanz (zum Beispiel beim Erzählen oder in der Analyse von Rollen und Identitätskonstruktionen) kann eine produktive, möglichenfalls emanzipative Reflexion eigener Interessen, Gewohnheiten, Überzeugungen und Gefühle in ihrem gesellschaftlichen und situativen Zusammenhang anstoßen.
Sozialpsychologie und Stammtischparolen
Sozialpsychologische Langzeitstudien zum Autoritarismus oder Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wurden oben bereits zitiert und zeigen, wie es in Deutschland seit Jahren und Jahrzehnten ein weitgehend gleichbleibendes Niveau von Zustimmungswerten für Positionen gibt, die – latent oder manifest – bestimmte Menschengruppen abwerten und ausgrenzen, sowie zugleich nach einer ‘harten Hand des Staates’ verlangen, die im Zweifelsfall auch nicht durch demokratische Prozessordnungen und Prinzipien behindert werden soll. Autoritäre politischen Einstellungen bei etwa einem Viertel bis einem Drittel der Bundesbürger waren und sind also offenbar eine Normalität in dieser liberalen und demokratisch verfassten Gesellschaft, und zwar auch ohne rechtsradikale Repräsentanz auf den großen politischen Bühnen – letztere gibt es in Deutschland erst seit gut fünf Jahren, nicht aber den verbreiteten Nationalismus, Rassismus und Sozialdarwinismus. Autoritäre Einstellungsmuster bilden eine wichtige und ansprechbare Grundlage der gegenwärtigen rechtspopulistischen Mobilisierungserfolge und werden von vielen Menschen als unangenehmes Problem im Alltag wahrgenommen, mit dem sie umgehen lernen wollen und sich zum Beispiel deshalb einen Kurs der politischen Erwachsenenbildung zum Thema Populismus in Alltagssituationen besuchen. In der Bildungspraxis der Volkshochschulen verbirgt sich hinter einer Veranstaltung zum Thema Populismus unter Titeln wie „Wie reagiere ich auf Populismus?“ (VHS Berlin Steglitz-Zehlendorf) oder „Parolen Paroli bieten“ oft ein Argumentationstraining gegen Stammtischparolen.27 Der sozialpsychologische und kommunikationswissenschaftliche Ansatz von Klaus-Peter Hufer (2000) war ursprünglich nicht explizit auf Populismus zugeschnitten, lässt sich aber leicht darauf anwenden und fokussiert vor allem folgende praxisnahe Lernziele:
- Analyse- und Urteilskompetenz: Dekonstruktion von Stereotypen, Pauschalisierungen, Vorurteilen.
- Handlungskompetenz: Kommunikation und Rhetorik im Umgang mit entsprechenden Sprecher*innen
Ein Angebot zu „Stammtischparolen“ wird von Lehrenden allein oder häufig in Kombination mit verschiedenen sozial- und politikwissenschaftlichen Ansätzen und Theorien zum (Rechts-)Populismus, sozialen Bewegungen, Kommunikation und Interaktion kombiniert und angewendet. Von Hufer heute selbst mit dem Zusatz „Populismus aus der Mitte der Gesellschaft“ angeboten, wurde das Konzept auch als „Steinbruch“ – also zur Verwendung von Teilen für eigene Zwecke – freigegeben und wird von vielen Praktiker*innen unterschiedlich angewandt. Populismus oder Stammtischparolen können so in Veranstaltungen beispielsweise als Strategie oder als Ideologie oder als logische Verknüpfung von beidem besprochen und bearbeitet werden, mit je unterschiedlichen Implikationen für die konkreten Lerninhalte und auch für die Interaktion in der Veranstaltung.
Fakten, Fake News, Medienkompetenz
Die Medien spielen in der Populismusdiskussion eine große Rolle. Einerseits spielen verschiedene Dynamiken der medialen Berichterstattung und bestimmte Formate dem Populismus in die Hände, weil auch sie auf Skandalisierung, Verkürzung, Polarisierung und die subtile Stereotypisierung bestimmter Gruppen setzen.28 Darüber kann politische Bildung aufklären, bzw. auch verbreitete negativ-Stereotypen in anderen Kontexten vermeiden oder dekonstruieren, um reflexive Lernprozesse zu ermöglichen. Zugleich steht politische Erwachsenenbildung in erhöhtem Maße vor der Herausforderung, Inhalte zur Diskussion zu stellen, die verschiedenen Altersgruppen und Lebenswelten erreichen. Nicht nur sind die Medienkompetenzen, -zugänge und -gewohnheiten von jüngeren und älteren Erwachsenen sind auch im Zuge der Digitalisierung diverser geworden, sondern auch die veränderten Kommunikations- und Organisationsformen in den sozialen Medien, die eine Entwicklung von Filterblasen, Echokammern und Feedbackloops begünstigen und als Katalysator für Populismus wirken können.29
Ausgehend von der populistischen Krisendiagnose über eine ungerechte Entzweiung von ‘Volk’ und ‘Elite’ liegt der Übergang zum besonders legitimatorisch-instrumentellen Gebrauch von Fakten nahe, aber auch zum verschwörungstheoretischen Denken. Ganz prominent stechen dabei nicht nur die mehr oder weniger organisiert produzierten und geteilten Falschmeldungen irgendwelcher Horrorgeschichten über die politische Elite oder vermeintlich ‘unpassende’ Fremde heraus. Ebenfalls fällt die politische Ignoranz gegenüber wissenschaftlich nachgewiesenen Fakten auf, etwa zum Klimawandel. Das überwältigende Urteil der Literatur und Studienlage kann populistisch als elitärer Großangriff auf die herkömmlichen Gewohnheiten und Werte des Volkes mit ‘seiner’ Wirtschaft, Mobilität und Essgewohnheit interpretiert werden. Unzählige kleine und große Geschichten, mit denen die Vorstellungswelt um die populistische Politikform bedient wird, runden die gegenwärtige Erfahrungswelt in einschlägigen Kommunikationsblasen ab. Allerdings liegen in dieser Entwicklung die Fakten durchaus niemals geschichtlich hinter uns, wie es die Rede vom ‘postfaktisches Zeitalter’ suggeriert. Sondern vielmehr gibt es heute verschiedene politische Interpretationen verschiedener ‚alternativer Fakten‘ manchmal auch besonders fragwürdiger Herkunft, die nebeneinander bzw. ‘parafaktisch’ auf den politischen Bühnen und in den sozialen Netzwerken präsentiert werden, um unterschiedliche politische Positionen zu begründen oder zu rechtfertigen.21
Politische Entscheidungen auf Grundlage von Fakten stehen also nach wie vor hoch im Kurs. Doch gerade in der Auswahl der Informationen und deren Präsentation als Fakten scheiden sich die Geister, manchmal weniger zur Begründung und mehr zur Rechtfertigung politischer Positionen. Demokratie funktioniert nur, wenn Fakten einerseits geteilt und zugleich unterschiedlich interpretiert werden können. Politische Bildung muss selbstverständlich prüfen, ob Informationen stimmen. Sie kann aber darüber hinaus die Rolle politischer Urteile bei der Auswahl und Bewertung von Fakten thematisieren und konkurrierende Interpretationen ggfs. auf politische Interessensgegensätze zurückführen. In der mediatisierten Gegenwartsgesellschaft mit einer pluralistischen Presselandschaft und neuen Formen der Kommunikation und Wissensbildung über Soziale Medien werden Kompetenzen im Bereich der Recherche, Auswahl und Beurteilung von Informationen zunehmend wichtiger. Diesem Thema kann sich politische Erwachsenenbildung mit dem Fokus auf Medienkompetenz widmen, z.B. mit Kursen zum Umgang mit Fakten und Fake News und auch im Bereich des informellen (Selbst-)Lernens mit Websites und Online-Tools.30 In diesem Feld ergeben sich innovative und interdisziplinäre Verknüpfungsmöglichkeiten von politischer Bildung und Journalismus beinahe wie von selbst.31
Fazit
In Veranstaltungen politischer Erwachsenenbildung wird das oft antipopulistisch gesonnene Publikum zum besonnenen Bohren dicker Bretter ermutigt: Populismus ist aus der ‘Mitte der Gesellschaft’ und wahrscheinlich auch ‘gekommen um zu bleiben’. Diese Entwicklung von Verschiebungen im Diskurs und in der Politik geschah Stück für Stück, allmählich, auch teils schleichend. Umgekehrt brauchen auch gesellschaftlich-demokratische Lernprozesse Zeit: Gespräche und Erfahrungen wirken nicht sofort, manchmal auch scheinbar gar nicht oder nicht wie erwartet – besonders in schwierigen und emotionalen Situationen und insbesondere bei erwachsenen Menschen, die selbst entscheiden, wann und was sie lernen und die ihre bestehenden politischen Urteile und Meinungen gewöhnlich über Jahre und Jahrzehnte entwickelt und gefestigt haben. Wenn politische Bildung bloß als ‘Feuerwehr’ wirkt, bedeutet das, dass eine nachhaltige politische Bearbeitung der gesellschaftlichen Ursachen von radikalem Populismus, Faschismus oder Rechtsextremismus – auch und gerade außerhalb der politischen Bildung in der Gesellschaft und ihrer Politik – nicht stattfindet. Gerade in Zeiten fortgeschrittener Radikalisierung und beschleunigter Polarisierungen in der Ökonomie und im politischen Diskurs um die ‘Krise der Demokratie’ stellen sich somit der politischen Erwachsenenbildung alte Herausforderungen mit neuer Brisanz.
- Thema Autoritarismus/Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit:
-Bielefelder Mitte-Studie: https://www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/mitte2018.html
-Leipziger Autoritarismus-Studie: https://www.boell.de/de/leipziger-autoritarismus-studie
Thema Vertrauensverlust:
-Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Vertrauen in Politik und Parteien: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Gesellschaftlicher_Zusammenhalt/ST-LW_Studie_Schwindendes_Vertrauen_in_Politik_und_Parteien_2019.pdf
-Langzeitstudie Medienvertrauen der Universität Mainz: https://medienvertrauen.uni-mainz.de/forschungsergebnisse-der-welle-2019/
Verbreitung populistischer Einstellungen:
„Populismusbarometer“ der Bertelsmann Stiftung: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ZD__Studie_Populismusbarometer_2018.pdf [↩] - Eröffnungsrede zur Konferenz „Wut, Protest und Volkes Wille“ von Stefanie Beck und Karmen Karr im Frühjahr 2016 https://www.bpb.de/veranstaltungen/dokumentation/226708/der-vortrag-im-wortlaut [↩]
- Dirk Jörke und Veith Selk: der hilflose Antipopulismus https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-0425-2015-4-484/der-hilflose-antipopulismus-jahrgang-43-2015-heft-4?page=1 [↩]
- Zum Weiterlesen: Ein eigener Text, gemeinsam mit Malte Thran verfasst und in unserem Buch „Rechtspopulismus im Fokus. Herausforderungen für die politische Bildung“ veröffentlicht: https://www.researchgate.net/publication/328745887_Defizitare_Populismusbegriffe_Von_der_Defizitperspektive_zur_ideologietheoretischen_Analysekompetenz [↩]
- Cas Mudde / Christobal Kaltwasser: The Oxford Handbook of Populism (auf Englisch): https://books.google.de/books?id=GcQ9DwAAQBAJ&pg=PA490&lpg=PA490&dq=fighting+fire+with+fire+kaltwasser&source=bl&ots=PDV7UWYfb9&sig=ACfU3U2PkyDgB5W2B_Ad-f9-MIvxyQdgHQ&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjVp8Tote_nAhWRC-wKHRfyD78Q6AEwAXoECAkQAQ#v=onepage&q=fighting%20fire%20with%20fire%20kaltwasser&f=false [↩]
- Wilhelm Heitmeyer: „autoritär, national, radikal“; Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung: https://www.sueddeutsche.de/politik/afd-populismus-extremismus-1.4407594 [↩]
- Alexander Gauland in der FAZ: „Warum muss es Populismus sein?“ https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/alexander-gauland-warum-muss-es-populismus-sein-15823206.html [↩]
- Fluter. „Fear gewinnt“ – Was ist Populismus? https://www.fluter.de/populismus-kurz-erklaert Leseprobe Cas Mudde / Cristóbal Rovira Kaltwasser: Populismus – Eine sehr kurze Einführung: http://dietz-verlag.de/downloads/leseproben/0545.pdf [↩]
- Vortrag von Philip Manow: Politischer Populismus im europäischen Vergleich: https://www.youtube.com/watch?v=Q2n6w0c6BnE [↩]
- Cas Mudde: Nativism ist he driving the far-right surge in Europe – and is here to stay (Text auf Englisch): https://www.theguardian.com/global/commentisfree/2019/nov/12/nativism-is-driving-the-far-right-surge-in-europe-and-it-is-here-to-stay [↩]
- Christoph Möllers – der Unterschied zwischen populistisch und autioritär. https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/die-autoritaere-revolte-der-unterschied-zwischen-populistisch-und-autoritaer PW-Portal – What is a Populist? https://pw-portal.de/rechtspopulismus-und-medien/40935-rechts-populismus-herausforderung-fuer-die-forschung [↩]
- Simon Franzmann – „Politische Bildung muss nicht Populismus bekämpfen, sondern seine Entstehungsursachen“ https://transfer-politische-bildung.de/mitteilung/artikel/politische-bildung-muss-nicht-populismus-bekaempfen-sondern-seine-entstehungsursachen-interv/ [↩]
- TINA = There Is No Alternative https://www.politik-kommunikation.de/tags/tina [↩]
- Frank Decker / Marcel Lewandowsky – Populismus https://www.bpb.de/41192/was-ist-rechtspopulismus?p=all [↩]
- Als Randnotiz kann hier kurz die vergleichsweise viel kleinere und offenere Debatte zum Linkspopulismus erwähnt werden, der im Diskurs der politischen Bildung zwar auch oft kritisch, aber nur in Ausnahmefällen als eine ‘Bedrohung der Demokratie’ begriffen wird. [↩]
- Siehe Veranstaltung der VHS Bremen: Rechtspopulismus in Europa und solidarische Alternativen: https://www.vhs-bremen.de/veranstaltungen/bremen/13-bremer-spiele-tage/kurs/Rechtspopulismus+in+Europa+und+solidarische+Alternativen/nr/201M10-030/bereich/details/ [↩]
- Christian Demuth – Politische Bildung nach PEGIDA https://library.fes.de/pdf-files/dialog/12324-20160209.pdf [↩]
- Zum Beispiel: Bayrischer Forschungsverbund Zukunft für Demokratie: https://www.fordemocracy.de [↩]
- Zum weiterlesen: Dirk Jörke und Veith Selk: Populismus in Zeiten des postdemokratischen Liberalismus. Für eine Theorie des Populismus ohne Moralisierung: https://www.soziopolis.de/beobachten/politik/artikel/populismus-in-zeiten-des-postdemokratischen-liberalismus/ [↩]
- Zum weiterhören auf Englisch: Colin Crouch – Postdemokratie nach den Krisen: https://www.youtube.com/watch?v=T9lir14D2h0&t=2869s [↩]
- Tim Engarter über „Demokratiebildung in Zeiten des Populismus“: https://www.youtube.com/watch?v=0nUKqDMjIWw [↩] [↩]
- zum weiterlesen: Helmut Bremer – Wie umgehen mit „rechts“? WBV Journal 2/2018 https://www.wbv.de/artikel/WBDIE1802W032 [↩]
- Zur Einführung empfiehlt sich das Blog https://soziologieblog.hypotheses.org/10270
Zum weiterlesen: Ronald Ingleheart und Pippa Norris: – „Trump, Brexit, and the rise of Populism: economic have-nots and cultural backlash“ https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&ved=2ahUKEwjR8OWtkPTnAhWmTxUIHYkuD7oQFjABegQIARAB&url=https%3A%2F%2Fresearch.hks.harvard.edu%2Fpublications%2FgetFile.aspx%3FId%3D1401&usg=AOvVaw2jrQf66ImrODcwlSAsjp74
Martin Schröder (SOEP-Studie): „AFD-Wähler sind nicht abgehängt, sondern ausländerfeindlich“
https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.595120.de/diw_sp0975.pdf [↩] - Andreas Reckwitz: Zwischen Hyperkultur und Kulturessentialismus: https://soziopolis.de/beobachten/kultur/artikel/zwischen-hyperkultur-und-kulturessenzialismus/
Andreas Reckwitz – die Spätmoderne und die Drei-Klassen-Gesellschaft. https://www.youtube.com/watch?v=_PSRIXR_Ygs [↩] - Zum Weiterlesen: Johannes-Herwig-Lempp „Nazis raus! Haut ab!“? zum systemischen Umgang mit Menschen und Rechten. https://www.herwig-lempp.de/daten/ZSTB-2_17-Herwig-Lempp-Nazis-raus.pdf [↩]
- https://www.bpb.de/269250/14-bundeskongress-politische-bildung-2019-was-uns-bewegt-emotionen-in-politik-und-gesellschaft [↩]
- Klaus-Peter Hufer im Gespräch mit Studio 47 https://www.youtube.com/watch?v=FjmRcFVZcyQ
Ein weiteres Interview gibt es vom Netzwerk politische Bildung Bayern: https://www.argumentationstraining-gegen-stammtischparolen.de/interview
Zusammengefasst wird der Ansatz von Hufer in einer Rezension von Dr. Ralf Frankenberger: https://www.socialnet.de/rezensionen/22298.php
Weitere Ansätze zum Thema Vorurteile werden von den großen Gewerkschaften verfolgt, hier gibt es weiterführende Materialien zum Thema, die die Themen Soziale Deprivation und Vorurteile verknüpfen:
Bildungsbaustein Rechtspopulismus und Vorurteile von Ver.Di NRW: https://nrw.verdi.de/++co++3ca945f0-190a-11e7-957e-525400ed87ba
IG Metall, Bildungszentrum Sprockhövel: Rechtspopulismus entgegentreten. Strategien zum Umgang mit AFD und Co: https://www.isf-muenchen.de/pdf/Rechtspopulismus_online.pdf [↩] - Dokumentation der Grimme-Veranstaltung in Leipzig 2019 – wie die Medien zur Verbreitung des Rechtsradikalismus beitragen: https://www.grimme-lab.de/2019/12/19/doku-leipzig-teil-2-wie-die-medien-zur-ausbreitung-des-rechtsradikalismus-beitragen/ [↩]
- Schriftenreihe Medienkompetenz der BPB – Diskussionsräume in Sozialen Medien https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/290851/diskussionsraeume-in-sozialen-medien [↩]
- Zum Beispiel bietet die VHS Mittelsachsen einen „Faktencheck im Selbstversuch“ an. Im Ankündiger der Veranstaltung heißt es: „Trauen Sie allen Nachrichten, Meldungen und Bildern aus Medien und Internet? In dieser Veranstaltung können Sie lernen, wie Falschmeldungen und manipulierte Bilder entstehen und wie man deren Glaubwürdigkeit prüfen kann. Wir zeigen an anschaulichen Beispielen wie durch Manipulation Bildaussagen komplett verändert werden, um z. B. gezielt andere politische oder gesellschaftliche Botschaften zu verbreiten. Sie lernen einfache Wege und Möglichkeiten kennen, wie Sie Quellen und Glaubwürdigkeit von Medieninhalten überprüfen können. https://www.vhs-mittelsachsen.de/index.php?id=92&kathaupt=1&katid=1048&katvaterid=977&knr=RF11602&katname=Freiberg&browse=forward&knradd=TF10412 [↩]
- Björn Milbradt und Sally Hohenstein – Populismus im Internet: „Wie eine zeitgemäße politische Bildung reagieren muss.“ https://www.dji.de/themen/medien/populismus-im-internet.html
Christa Goede: Stimmt das oder stimmt das nicht? 15 Websites und Tools für den Faktencheck https://www.christagoede.de/faktencheck-nachrichten-bilder-und-informationen-ueberpruefen/?cli_action=1583495645.901
Das erste gemeinnützige Recherchezentrum m deutschsprachigen Raum arbeitet zu verschiedenen Streitthemen als Antwort auf Populismus und Fake News: https://correctiv.org [↩]