Von Judith Orland/ Oxfam Deutschland
Social Media als Kulturphänomen
Fast alle Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben mittlerweile Social Media für sich und ihre Kampagnenarbeit
entdeckt. Die Liste dessen, was Social Media hier leisten soll, ist lang – angefangen bei der Mobilisierung zahlreicher
Unterstützer/-innen über das Erzeugen Tausender Videoklicks bis hin zur Mitbestimmung bei Kampagnenslogans und -aktionen. Die Entscheidung für einen Kommunikationskanal und den damit verbundenen Einsatz von bestimmten Tools ersetzt jedoch nicht die Beantwortung von klassischen Fragen der Kampagnenarbeit, u. a.: Was ist das Ziel? Wer sind die Verbündeten, wer die Gegner/-innen? Wie beeinflusst man diese Gruppen am besten? Welche Ressourcen und Kompetenzen stehen zur Verfügung?
Während im Netz der 90er- und frühen Nullerjahre noch die One-to-Many-Kommunikation im Vordergrund stand, hat die Many-to-Many-Kommunikation, die das Social Web bietet, spätestens seit Mitte 2000 viel verändert. Aus Besucher/-innen eines Web-Auftritts sind Nutzer/-innen geworden. Dieser Paradigmenwechsel ist weitreichend und NGOs versuchen die damit verbundenen Möglichkeiten bestmöglich für sich zu nutzen.
Derzeit begegnet uns eine große Bandbreite von Präsentations- und Nutzungsformen im Netz. Der klassische Web1.0-Internetauftritt besteht weiterhin. Seine Oneto-Many-Kommunikation informiert über die Arbeit der Organisationen, bietet aber keine Möglichkeit der Interaktion. Parallel dazu tauschen sich Menschen auf Plattformen wie Facebook, Twitter oder auch in Blogs aus. Die Möglichkeit der Many-to-Many-Kommunikation, die das Social Web bietet, schafft zweifellos neue soziale und kulturelle Nutzungsgewohnheiten. Eine Weiterentwicklung, bei der es um Interpretation und Analyse geht, könnte man als „Web 3.0“ bezeichnen. Beispiele für diesen Trend sind Datenjournalismus, die Ushahidi-Plattform sowie die Open-Government-Bewegung.
Jede Organisation muss sich entscheiden, wie stark sie auf Information, Interaktion oder Interpretation setzen will und kann. Die Antwort hängt u. a. stark davon ab, welches Selbstverständnis die Organisation besitzt sowie von Zielen und Arbeitsweise – kurz: die Organisationskultur spielt bei Umsetzung und Einsatz von Social Media eine entscheidende Rolle.
Die Zeiten, in denen der/die Praktikant/-in sich um Social Media gekümmert hat, sind für die meisten Organisationen vorbei. Viele haben mittlerweile erkannt, dass es vor allem ums Soziale geht, also um Beziehungen, und zu einem geringeren Anteil um das technische Beherrschen von Tools. Beziehungsaufbau und -pflege brauchen Kontinuität und Verlässlichkeit; zeitnahe Reaktionszeiten werden erwartet, ebenso wie Authentizität und Offenheit. Deshalb ist es wichtig zu entscheiden, wo Social Media bei einer Organisation angesiedelt ist und wie die Abläufe geregelt sind. Auch die knifflige Frage der Ressourcen muss jede Organisation für sich beantworten. `
Oxfam als Beispiel
Als ich 2009 angefangen habe, Social Media bei Oxfam Deutschland aufzubauen, stand fest, dass wir dieses Tool vor allem zur Unterstützung der Kampagnenarbeit nutzen wollten. Aber welche Netzwerke und Plattformen sollten wir nutzen und wo unsere begrenzten Ressourcen einsetzen? Wo waren unsere Unterstützer/innen überhaupt online unterwegs und wo konnten wir neue finden? Sollten wir unsere eigene Plattform aufmachen? Was konnten wir realistischerweise online bewegen, wie On- und Offline-Aktionen verbinden?
Um mir Inspiration bei denen zu holen, die bereits einige Jahre Erfahrungen mit digitaler Kampagnenarbeit von NGOs gesammelt hatten, besuchte ich 2009 das eCampaigning Forum (ECF) in Oxford. Dort treffen sich jährlich rund hundert Online-Campaigner, größtenteils aus Großbritannien, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen:
Die Erhöhung der Reichweite und der Öffnungsrate von E-Mails, Kriterien für gute Aktions- bzw. Spenden-E-Mails, Überzeugungsarbeit beim Chef, sich für Social Media zu öffnen oder die Frage, ob es ein Werbebudget braucht oder alles umsonst zu haben ist, waren einige der Themen, die offen und kontrovers diskutiert wurden.
Seit 2010 bietet die von Oxfam mit ins Leben gerufene NGO-Fachkonferenz „recampaign – die besten Kampagnen im Netz“ einen solchen Ort des Austausches auch für den deutschsprachigen Raum. Hier kommen zivilgesellschaftliche Akteure, Campaigner und Aktivist/-innen einmal pro Jahr zusammen und diskutieren über die neuesten Trends, darüber, was sich bewährt hat und wie man Herausforderungen begegnet. Denn ohne eine Auseinandersetzung mit der Kultur von Social Media kommt man nicht weit.
Eine Erkenntnis lautet: Man muss nicht auf allen Plattformen vertreten sein. Im Gegenteil. Allerdings sollte man sich mit den Grundregeln und Gepflogenheiten der Plattformen, auf denen man interagiert, auskennen. Aus Halbherzigkeit erwächst bekanntlich nicht viel, und auch die Community merkt schnell, ob es sich hier um einen ernsthaftes Angebot handelt oder nicht. Beziehungsaufbau braucht eben seine Zeit.
Zudem ist die Kultur von Social Media-Plattformen sehr vielfältig. Ein Beispiel: Der Microblog Twitter ist auf Aktualität und Jetzt-Zeit-Kommunikation ausgerichtet, was eine schnelle Reaktion erfordert. Wenn man weiß, dass die Diskussion kontrovers werden könnte, hat man im besten Fall schon mögliche Argumente und Fakten parat.
Mittlerweile ist Twitter auch in der Politik angekommen. So twittern nicht nur der Regierungssprecher,
sondern auch viele Bundestagsabgeordnete sowie Ministerien.
Hier kann es sich lohnen, zu aktuellen politischen Debatten oder Abstimmungen in den direkten öffentlichen Dialog einzusteigen. Dabei wird schnell klar, wer das Medium verstanden hat und wer Twitter „nur“ einsetzt, weil es heutzutage dazu gehört. Es ist ein beidseitiger Lernprozess.
Hinzu kommt, dass sich soziale Medien und Netzwerke sehr schnell weiterentwickeln. Die Betreiber ändern die Regeln oder die Nutzer/-innen wechseln die Plattform. Man muss daher auf dem Laufenden bleiben. Das ist in einem vollen Arbeitsalltag nicht immer leicht zu bewerkstelligen. Bei Oxfam veranstalten wir in regelmäßigen Abständen informelle Mittagsessen, bei denen wir unseren Kolleg/-innen unsere Interaktion auf Social Media-Plattformen vorstellen und ihnen einen Einblick in gegenwärtige Trends im Netz geben. Ich kann solche Veranstaltungen nur empfehlen.
Auf diese Weise konnten wir Berührungsängste abbauen, Wissen weitergeben und Verständnis für die neuen Nutzungsarten generieren. Nicht selten haben Mitarbeiter/-innen danach Lust bekommen, selbst zu twittern oder zu bloggen. …
Mit den neuen Nutzungsgewohnheiten werden auch neue Anforderungen an Organisationen licht, in welchen Formaten und zu welchem Zweck? Auf Fragen wie diese müssen die Organisationen zukünftig Antworten finden.
Fazit
In den letzten drei Jahren hat sich viel getan. Einige Netzwerke, wie Facebook, sind enorm gewachsen, andere, wie StudiVZ, haben sich nicht durchsetzen können. Das gleiche gilt für Tools.
Zugenommen hat in jedem Fall der Erfahrungsschatz, auf den NGOs zurückgreifen können. Wir wissen mehr darüber, was beim Online-Campaigning funktioniert und was man beachten muss. Mittlerweile wird Social Media zunehmend auch als fester Bestandteil der Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit verstanden und nicht mehr nur als Zusatz-Kanal gesehen.
Als Leiterin des Social Media-Bereichs sehe ich meine Aufgabe vor allem darin, zu vermitteln. Dieser Auftrag besteht extern wie intern: einerseits den Dialog mit den Unterstützer/-innen und Oxfam zu gestalten, andererseits innerhalb der Organisation Verständnis für die neuen kulturellen und sozialen Nutzungsgewohnheiten zu schaffen.
Folgendes hat sich dabei bewährt: Mitarbeiter/-innen ins Boot zu holen und idealerweise Champions zu identifizieren, die Lust haben, selber aktiv zu werden. Zeit fürs Surfen einzuplanen. Mut zu Experimenten. Veranstaltungen und Debatten zu besuchen bzw. via Livestream oder Twitter zu verfolgen. Dranzubleiben und Alleinstellungsmerkmale herauszuarbeiten. Geduld und Offenheit mitzubringen.
Oxfam Deutschland e.V. ist eine Hilfs- und Entwicklungsorganisation, die sich für eine gerechte Welt ohne Armut einsetzt. Sie finden Oxfam Deutschland derzeit auf folgenden Social Media-Kanälen: Facebook, Twitter und G+, zudem haben wir einen eigenen Youtube-Kanal und posten unsere Bilder auf unserem Flickr-Account. Seit einiger Zeit bloggen wir auch über unterschiedliche Themen unserer Arbeit. OxfamUnverpackt ist ebenso wie der Oxfam Deutschland Trailwalker auf Facebook zu finden.
Weitere Informationen auf http://www.oxfam.de/.
Judith Orland studierte an der School of Oriental and African Studies (SOAS), London University, Law and Social Anthropology und hat ihr Studium 1996 mit einem Master of Law abgeschlossen. Im Anschluss arbeitete sie für internationale Menschenrechtsorganisationen in Frankreich und Indien sowie im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in Jordanien. Seit 2008 ist sie bei Oxfam Deutschland im Kampagnenbereich tätig und ist u. a. zuständig für Social Media, Online-Campaigning und den Aufbau eines Unterstützer/-innen-Netzwerkes. Sie ist Mitbegründerin der NGO-Fachkonferenz ‚recampaign – die besten Kampagnen im Netz‘.