Die Digitalisierung von Kultur- und Gedenkstätten ist ein aktuelles Thema in der Museen- und Gedenkstättenlandschaft. Dies ist zum einen dem heute gewohnten ständigen Zugriff auf alle möglichen Informationen geschuldet, aber zum anderen auch dem Wunsch nach Erhalt der Ausstellungsstücke sowie der Aufrechterhaltung der Nutzung von Kultur- und Gedenkstätten in der aktuellen Corona-Pandemie. Bilder und Dokumente sollen archiviert und erhalten bleiben, gleichzeitig bieten die digitalisierten Objekte neue Möglichkeiten für künstlerische digitale Formate.
Eine andere Dimension im Bereich der Gedenkstätten ist der Verlust von Zeitzeugen der NS-Zeit. Um dem Grauen und dem Unrecht Gesichter und Stimmen zu geben, sind Vorträge in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen ein wirkungsvoller Bestandteil der politischen Aufklärung, die aktuell und künftig eine wichtige Rolle spielen wird. Der Besuch von Zeitzeugen wird jedoch künftig nicht mehr möglich sein und Bildungseinrichtungen brauchen Alternativangebote.
Im Rahmen unseres Dossiers „Virtuelles Gedenken“ wollen wir im Folgenden ein paar ausgewählte digitale Gedenkstätten und Museen vorstellen.
NS Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Im Dezember 1979 wurde das NS-Dokumentationszentrum in Köln gegründet. Arbeitsschwerpunkte sind neben der Schaffung eines regionalen Ortes des Gedenkens, Wissensvermittlung und die Erforschung der NS-Zeit in Köln. Das Gebäude war in den Jahren 1933 bis 1945 der Sitz der Kölner Gestapo. Dabei sind die ehemaligen Gefängniszellen der Gestapo Mittelpunkt der Bildungs- und Forschungseinrichtung und Teil der seit 1997 vorhandenen Dauerausstellung. Bereits seit 2009/2010 enthält die Ausstellung zahlreiche Medienstationen, die den Besucherinnen und Besuchern ein eindrückliches Bild aus der Zeit des Nationalsozialismus vermitteln.
Seit einiger Zeit ist es Interessierten möglich, das Dokumentationszentrum virtuell im Rahmen eines 360-Grad-Rundgang zu besuchen und die beklemmende Atmosphäre zu erleben. Der virtuelle Rundgang wurde nun komplett überarbeitet, führt durch das gesamte Haus (Gedenkstätte, Dauerausstellung, Sonderausstellungen):
„Er umfasst nunmehr insgesamt 88 Panoramen, in die sämtliche Inhalte der 28 Medienstationen integriert wurden: 980 Ausschnitte aus Zeitzeugeninterviews und historische Filme, 187 Fotos sowie 20 Audiodateien. Auch die erheblich ausgeweitete Audioführung durch das Haus sind nunmehr Bestandteil des 360-Grad-Rundgangs. Hier bieten insgesamt 1.168 Audiodateien in Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch, Russisch, Hebräisch und Polnisch mit einer Dauer von jeweils 5¼ Stunden pro Sprache allumfassende Einblicke in Haus und Ausstellung sowie die Geschichte Kölns während der NS-Zeit. Der gesamte Inhalt des Audioguides steht zudem in allen acht Sprachen auch in Textform zur Verfügung. Auf diese Weise haben Sie trotz Corona-bedingter vorübergehender Schließung des Hauses die Möglichkeit, sich intensiv mit dem Thema ‚Köln im Nationalsozialismus‘ zu beschäftigen.“
Virtuell durchs NS-Dok
Neben dem Angebot für (virtuelle) interessierte Besucherinnen und Besucher bietet das NS-Dokumentationszentrum Möglichkeiten zur Vertiefung und zum Studium der Geschichte. Es stehen eine Bibliothek, Dokumentationen und Sammlungen, die Forschungsabteilung sowie Publikationen zur Verfügung.
Hotel Silber. Ein virtueller Geschichtsort
Die virtuelle Gedenkstätte Hotel Silber wurde 2013 für den Grimme Online Award nominiert.
Die Vorarbeiten zur Schaffung einer virtuellen Gedenkstätte im Hotel Silber in Stuttgart begannen 2011 im Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Hintergrund ist die Nutzung des ehemaligen Hotels als Zentrale der Gestapo zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit sind in die Gestaltung der Projekt-Website eingeflossen und bieten im Rahmen der Dauerausstellung sowie der Wechselausstellungen und verschiedenen Diskussionsforen bzw. Veranstaltungen Informationen, die selbstständig oder unter pädagogischer Anleitung erfahren werden können.
Das Angebot wird wie folgt beschrieben:
„Der ‚Virtuelle Geschichtsort‘ bietet Interessierten die Möglichkeit, sich umfassend über das Hotel Silber, die Nutzung des Gebäudes durch Polizeibehörden in der Weimarer Republik, im ‚Dritten Reich‘ und in der Nachkriegszeit sowie über die Geschichte der Politischen Polizei bzw. Gestapo in Württemberg-Hohenzollern zu informieren. Anhand einzelner Objekte oder der geografischen Verortung werden Biografien von Tätern und Opfern, Geschichten von Verfolgung und Widerstand erzählt. Anschaulich wird ein Überblick über mögliche Themen und Ansätze für die geplante Ausstellung an dem historischen Ort in der Dorotheenstraße 10 gegeben.
Der ‚Virtuelle Geschichtsort‘ ist somit ein konkreter Schritt hin zu einem lebendigen und öffentlichen, der Diskussion und der historischen Vermittlung verpflichteten ‚Erinnerungsort Hotel Silber‘. Er wird kontinuierlich ausgebaut und erweitert. Anregungen von Besucherinnen und Besuchern sind jederzeit willkommen.“
Das Projekt – Der virtuelle Geschichtsort
Virtuelle Gedenkstätte Viersen
Neben der in einem früheren Beitrag erwähnten App der Stolpersteine, die einen virtuell gestützten Gedenk-Rundgang in ganz NRW ermöglicht, gibt es weitere regionale virtuelle Stadtführungsangebote, die Interessierten Informationen über die Zeit des Nationalsozialismus bieten. Ein Beispiel dafür ist die Virtuelle Gedenkstätte Viersen. Die Verlegestellen der Stolpersteine finden übrigens auch Erwähnung im Rahmen des virtuellen Angebots.
Das Angebot kann ergänzend zur tatsächlichen Stadtführung genutzt werden, entweder am PC daheim oder mobil mit dem Smartphone. Erklärt und eingeordnet werden Orte, die während der Nazidiktatur von besonderer Bedeutung waren, sprich Wohnungen von Verfolgten und Verstrickten, Gebäude von besonderem Interesse sowie Straßennamen und deren Namenspatronen. Zudem findet man online Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und eine Datenbank ermöglicht eine gezielte thematische Suche.
Die Initiatoren beschreiben das Angebot wie folgt:
„Der Stadtrundgang will keine gruselige Ballade erzählen. Er soll verdeutlichen, dass Opfer und ‚Täter‘ Tür an Tür lebten, zusammen in Vereinen tätig waren. Wie konnte es dennoch zu Morden, Misshandlungen oder auch nur bloßem Wegschauen kommen? Welche Mechanismen befördern solche Verhaltensweisen? Wie begegnet man etwaigen Wiederholungen? Beginnt dies mit verbaler Aufrüstung, der Schmähung von Bevölkerungsgruppen?
Das ist das Gegenteil der früher gepflegten ‚Schlusstrich‘-Debatte, sondern die Einladung zu weiterer Klärung. Nur wer seine (Stadt-)Geschichte kennt, kann hieraus lernen. Bitte unterstützen Sie uns mit Informationen, Namen, Adressen, die den Stadtrundgang komplettieren.“
Das Projekt
„Straßenbilder – Mozart, Marx und ein Diktator“
„Straßennamen erzählen vom Leben. Sie sagen etwas darüber, wie die Menschen an einem Ort arbeiten und wohnen, woran sie glauben und worauf sie hoffen. Mehr als eine Million Straßen und Plätze gibt es in Deutschland. ZEIT ONLINE hat ihre rund 450.000 unterschiedlichen Namen in einer Datenbank zusammengefasst. Manche Straßennamen gibt es hundertfach, einige nur ein einziges Mal. Keiner dieser Namen ist zufällig gewählt. An jedem einzelnen lässt sich ablesen, wie sich das Leben und Denken der Menschen über die Jahrhunderte verändert hat. Und woran sie sich erinnern wollen – und woran nicht.“
Straßenbilder – Projektbeschreibung
2018 wurde die Datenbank nominiert für den Grimme Online Award.
Ein trauriges Beispiel für einen Platz mit sowohl historischer als auch zeitgeschichtlicher Bedeutung ist der Breitscheidplatz in Berlin. Zunächst erinnert der Platz an die Opfer des Anschlags von Dezember 2016, als Anis Amri mit einem LKW in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt fuhr. In seiner Namensgebung erinnert er jedoch ursprünglich an den SPD-Politiker Rudolf Breitscheid, der von den Nazis verhaftet wurde und 1944 im KZ Buchenwald starb. Andere Straßennamen gibt es vielfach in Deutschland, wie beispielsweise Straßen und Plätze mit der Bezeichnung „Geschwister Scholl“. Ein weiterer Aspekt der Datenbank behandelt die Frage, wie viele Straßen- und Platznamen in Hamburg weibliche und männliche Namensgeber/innen haben – die im übrigen eine deutliche Ungleichverteilung aufzeigen. Insgesamt also ein informatives Angebot, dass sowohl im Kleinen Informationen gibt, jedoch auch einen zusammenführenden Charakter hat.
berlinHistory App
Einen anderen Ansatz der Erinnerung und des Zusammentragens von historischen Dokumenten und Bildern verfolgt die berlinHistory App. Dabei handelt es sich um eine offene Plattform, auf der sowohl Kultureinrichtungen als auch Privatpersonen Fundstücke hochladen können.
Übrigens:
2021 war die App nominiert für den Grimme Online Award. Das Projektteam führte ein Interview mit Rainer E. Klemke, Vorsitzender des Vereins berlinHistory e.V., und dem Grafikdesigner Oliver Brentzel.
Auf die Frage, was das Angebot so einzigartig macht, antwortet Brentzel:
„Das Besondere ist einfach diese Offenheit. Wir bieten eine offene Plattform für alle Institutionen der Berliner Geschichte und die machen zahlreich mit, sind begeistert und stellen uns ihre Inhalte zur Verfügung. Oder wir erstellen gemeinsam neue Projekte, z. B. mit dem Stadtmuseum das Thema ‚1945‘. Diese Offenheit gegenüber Partnern und gegenüber Inhalten, das ist das, was uns auszeichnet. Dass wir nicht alle Inhalte zu einem Zeitpunkt selber generieren, sondern dass wir diese Plattform haben und alle relevanten Institutionen Berliner Geschichte bei uns eingeladen sind mitzumachen – auch private Sammler. Wir haben beispielsweise in unserem Verein einen Stadtplan-Sammler, der eine riesige Sammlung an Stadtplänen hat, die wir jetzt in der App benutzen, sodass wir, passend zu den verschiedenen Themen, verschiedene Stadtpläne auf die originalen digitalen Stadtpläne drauflegen können. Dadurch wird Geschichte erfahrbar. Wir haben für das Thema ‚1945‘ eine sehr genaue Karte, wo alle Kriegsschäden eingezeichnet sind, sodass man wirklich sehen kann, welches Haus unbeschädigt blieb und welches Haus schwer beschädigt worden ist.“
quergewebt
Im Dunkeln – ein Leuchten
Ein Beispiel für eine digitale Kunstvermittlung ist die Webapplikation „Im Dunkeln – ein Leuchten“, die 2022 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Sie zeigt sechs ausgewählte Zeichnungen des Künstlers Fred Uhlman der Staatsgalerie Stuttgart. Der Künstler verarbeitet darin seine traumatischen Erfahrungen der Verfolgung als Jude in Deutschland sowie der Internierung in England.
In der Webapplikation werden sechs ausgewählte Zeichnungen vorgestellt. Die Nutzer*innen bewegen sich suchend über das digitale Papier – mit einem kleinen Lichtpunkt. Er gibt erst nur Details frei: hier ein Körper, dort ein Baum, am Himmel ein paar Vögel. Dann wird der Lichtkegel größer, immer mehr Details erschließen sich. Durch die Zeichnungen und ihre Geschichte führt eine Stimme – zu jeder Zeichnung eine andere, so dass jedes Blatt auch akustisch einen eigenständigen Charakter erhält.
Grimme Online Award 2022
Die Staatsgalerie Stuttgart bietet neben der interaktiven Erzählung zu Fred Uhlman auch digitale 360-Grad-Rundgänge durch das Museum an, aktuell unter dem Titel Moved by Schlemmer – 100 Jahre Triadisches Ballett und zum Maler Peter Paul Rubens – Becoming Famous. Zudem wird Video- und Filmmaterial online angeboten – auch in leichter Sprache sowie mit Gebärdensprache.
Die vorgestellten Angebote sind sehr unterschiedlich in ihrer Umsetzung und in der Zusammenstellung der Beteiligten. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie für ein vielfältiges Publikum geeignet sind, den Zugang zu schwierigen Themen erleichtern und einen emotionalen Bezug durch Geschichten, Gesichter und Stimmen aus der Geschichte ermöglichen.
Wir könnten die Liste noch eine ganze Weile fortführen, denn es gibt viele interessante und berührende (virtuelle) Angebote, die durch die mobilen Nutzungsmöglichkeiten einen modernen Zugang zum Gedenken, Erinnern und Aufklären öffnen, ob nun für Einzelpersonen oder als (Schul-)Gruppen, und somit – hoffentlich – für möglichst viele Menschen eine gute Basis für die eigene politische Bildung sowie Anlaufpunkte für das Gedenken an Personen und Geschehnisse bieten.