„Lügenpresse“ war das Unwort des Jahres 2014. Es stand in Konkurrenz zu Begriffen wie „Pegida“, „Putin-Versteher“ und „Social Freezing“ und ist im Gegensatz zu den beiden letztgenannten von immer noch hoher medialer Präsenz. Eine Stichprobe bei nur drei größeren Onlinemedien ergibt:
- 40 Nennungen in Beiträgen des SPIEGEL,
- rund 65 bei der Süddeutschen,
- mehr als 50 bei der ZEIT
– allein seit Anfang 2016 und allein in Beiträgen, die sich – so die Vermutung – eher analytisch und / oder kritisch mit dieser Bezeichnung befassen.
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Wie der Begriff „Lügenpresse“, der ungefähr seit Mitte des 19. Jahrhunderts im heutigen Sinne – „die Presse verbreitet Lügen“ – nachweisbar ist, von verschiedenen gesellschaftlichen, politischen und auch religiösen
Interessengruppen immer wieder aufs Neue für die Presse als Sprachrohr, ja als Waffe des jeweiligen (politischen) Gegners verwendet wurde, ist im entsprechenden (sehr ausführlichen) Kapitel der Wikipedia gut nachzulesen – inklusive des Verweises darauf, dass der Begriff auch gerne einmal von rechts nach links und wieder zurück gewandert ist.
Im Grimme Labor geht es ausschnitthaft nur um die aktuelle Lage. Verbunden mit dem Themenfeld von Hass & Hetze, gerade auch im Kontext der Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland, spielt die tatsächliche oder vermeintliche „Vertrauenskrise“ der Medien eine besondere Rolle. Denn oft sind diejenigen, die sich in ihren online veröffentlichten Kommentaren gegen die Aufnahme von Geflüchteten äußern, deckungsgleich mit denen, die Medien eine gezielte Einflussnahme oder die Verbreitung staatlich vorgegebener Informationen und Haltungen unterstellen. Wenn sich Angehörige staatlicher Gremien oder politischer Parteien diesen Mutmaßungen in einem nächsten Schritt anschließen, erreicht die Debatte um eine „Vertrauenskrise“ eine neue Eskalationsstufe.
Die Silvesternacht 2016 in Köln in den Medien
Ein Beispiel hierfür, das in seinen Konsequenzen noch lange nachwirkt(e), sind die Vorfälle in der Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof und die damit einhergehende Berichterstattung bzw. die Vielfalt der Reaktionen darauf.
Die Entwicklung der Situation in Kürze:
In der Online-Ausgabe der Tagesschau vom 1.1. 2016 hieß es: „In Nordrhein-Westfalen musste die Polizei zu mehr als 3400 Einsätzen ausrücken. Körperverletzung und Ruhestörung waren die häufigsten Gründe. In Dortmund beschossen Neonazis einen Streifenwagen mit Feuerwerkskörpern. Nach Polizeiangaben wurden 18 Personen festgenommen.“ In den Ausgaben der Tagesschau vom 2. und 3.1. 2016 gab es keinen Hinweis auf die Geschehnisse. Am 4. Januar wurde auf einen Beitrag des WDR verlinkt, in dem es hieß: „Silvester am Kölner Hauptbahnhof – Viele Opfer melden sexuelle Übergriffe“
Beim WDR (online) wiederum wurde am 2.1.2016 verkündet: „Silvester-Bilanz in NRW – Unfälle, Brände und Schlägereien zum Jahreswechsel“ … „Kurz vor Mitternacht musste der Kölner Bahnhofsvorplatz im Bereich des Treppenaufgangs zum Dom geräumt werden, weil es zu voll war. Ziel der Polizei war es, eine mögliche Massenpanik durch Zünden von Feuerwerk bei den etwa 1.000 Feiernden auf dem Platz zu verhindern.“ Am 4.1.2016 lautete der Bericht: „Frauen am Kölner Bahnhof belästigt – Sexuelle Übergriffe sollten von Diebstählen ablenken … Nach den massiven Übergriffen rund um den Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht laufen bei der Polizei die Ermittlungen weiter.“
Deutlich wird die Lücke in der Berichterstattung und der (erst) fehlende Hinweis darauf, dass (und warum) es eine Lücke gab. Dementsprechend schwierig wurde der Umgang mit diesem Umstand. In der Öffentlichkeit wurden sehr schnell Stimmen laut, die der Presse ein bewusstes Verschweigen des Ausmaßes und der Hintergründe der Vorfälle sowie der Herkunft der vermeintlich Tatverdächtigen unterstellten. Die Kommentarbereiche der Online-Medien, die entsprechenden Facebook-Posts und Tweets übermitteln ein Stimmungsbild von Menschen, denen ein tiefgehender Zweifel an der Unabhängigkeit der Presse vom Staat und „Meinungslenkern“ innewohnt.
Die Vorwürfe
Unter nur einem einzigen Artikel der WELT (vom 7. Januar 2016), der bezeichnenderweise den Titel „Der brandgefährliche Vorwurf des ‚Schweigekartells‘“ trug, findet sich eine Fülle von Kommentaren des folgenden Tenors:
- In den letzten Monaten oder Jahren sei „bei uns“ alles nur schöngeredet oder gleich verschwiegen worden, wenn es nicht der eigenen Meinung entspreche.
- Das Misstrauen hätten „unsere Medien“ sich leider hart erarbeitet. Vermutlich sei dies allerdings eher ein strukturelles als ein „arglistig“ (Hervorhebung im Original-Post) hervorgerufenes Problem, da „DPA und Co.“ Geld sparten, deshalb aber auch manipulations- bzw. fehleranfällig würden.
- Echter Journalismus decke auf und benenne Tatsachen, auch wenn sie unangenehm seien. „Den oberen nach dem Mund zu schreiben“ bedürfe keiner großen Kunst und „schon gar kein Rückgrat“, das Gegenteil sei der Fall.
- Die Ursache des Problems und „der Maulkorbpolitik“ säße in Berlin.
- Die Medien seien Teil des Problems, in diesem Kontext: des „Problems“ der Zuwanderung, das in Köln seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht habe.
- „Selbstverständlich“ hätten die Medien ebenso wie die Polizei versagt. Der „durchgesickerte“ Einsatzbericht spräche Bände. Aber glaube hier „allen Ernstes“ jemand, dass dieses Versagen das einer Einzelperson gewesen sei? Natürlich werde dies „von Oben gesteuert“. Seit August werde man „nur noch für dumm verkauft – solange bis es nicht mehr unter den Teppich zu kehren ist“.
- Eher habe die Politik versagt, die auf „die Polizei Druck ausübt“. Die Medien hätten ohnehin „seit geraumer Zeit versagt, indem Meldungen dem politischen Willen nach eingefärbt werden“.
- Ohne das Internet würde über die Vorfälle immer noch „der Mantel des Schweigens“ gelegt.
- Das Internetzeitalter sei als eine „Art zweite Reformation“ zu betrachten. Vor Luther habe der „gemeine Bürger so gut wie gar nichts“ gewusst und sei „wie eine Marionette von den Mächtigen geführt“ worden. Nun sei es wieder soweit. Der Bürger staune nur noch „über die verweigerte Information“. Der User schließt mit den Worten: „Und dem Geschichtsunterricht der Nachkriegszeit ist besonders ab den 60er ist abso[l]ut nicht zu trauen!“
Diese Kommentare geben der Vermutung Ausdruck, dass dem Bürger Informationen vorenthalten werden, dass ihm Dinge zum Zwecke einer Steuerung der öffentlichen Meinung suggeriert werden sollen und dass es eine unheilsame Nähe zwischen Medien und Regierung gibt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass zwar die Lügenpresse lügt, man sie jedoch dennoch gern als „Quelle“ missbraucht, wenn man selbst Behauptungen belegen will. Auch vor Fälschungen wird dann nicht zurückgeschreckt.
Medien(selbst-)kritik
Fast zeitgleich mit der eigentlichen Berichterstattung beginnen auch Ursachenforschung und Analyse seitens der Medien, was aus welchen Gründen wie passiert ist – und wer letztlich für die Panne (oder wie auch immer man es nennen möchte) in der Informationsübermittlung verantwortlich zu machen ist.
Der Deutsche Journalisten-Verband sieht in einer Pressemeldung vom 8. Januar 2016 die Schuld bei der Polizei und ihrer „Desinformationspolitik“. Diese – so der auch in anderen Kommentaren zu findende Vorwurf – hätte das Ausmaß des Geschehens erst spät und nur in Teilen kommuniziert.
Die FAZ kritisiert wiederum ARD und ZDF und steht somit für einen Strang der Auseinandersetzung, mit dem Medienformate sich gegenseitig kritisieren. Die Unterzeile eines Beitrags vom 6. Januar lautet:
„’Kommunikationsprobleme’ bekennt die Kölner Polizei beim Umgang mit den Übergriffen in der Silvesternacht. Auch ARD und ZDF haben solche – bei der Berichterstattung. Sie sollten es einmal mit Journalismus versuchen.“
Auch Meedia wirft ARD und ZDF, besonders der letzteren Anstalt, Versäumnisse und Fehleinschätzungen vor.
Andere versuchen, gängige Praxis zu erläutern (inkl. der Fehler, die in Ausnahmesituationen unterlaufen können): So zitiert die WELT den Chefredakteur des Kölner Stadt-Anzeigers, der bereits am 1. Januar auch über die sexuellen Übergriffe in Köln berichtet hatte, und der auf die verzögerte Aufnahme des Themas in Fernseh- und überregionale Nachrichten mit den Worten reagierte: „Das spricht eher für Phlegma, wenn es um regional verankerte Themen in Deutschland geht.“ Auch der SPIEGEL setzt sich mit den Vorgängen in der Presse und den Reaktionen darauf auseinander. „Gleichgeschaltet, desinformierend und bevormundend würden wir oftmals berichten, wenn es um die heikle Thematik ginge“, so laute in unzutreffender Weise der Vorwurf.
Die Süddeutsche Zeitung fasst bereits am 7. Januar zusammen, wie es im Zuge der Kölner Vorfälle zu einer verzögert anlaufenden Berichterstattung der Medien kommen konnte. Zitat aus dem Artikel: „Am Neujahrstag um 8.57 Uhr war die Welt in Köln noch in Ordnung. Da zog die Kölner Polizei per Pressemitteilung eine Bilanz der Silvesternacht, die Überschrift: ‚Ausgelassene Stimmung, Feiern weitgehend friedlich.‘“
Reaktionen von Seiten der Politik
In der öffentlichen Auseinandersetzung über die Berichterstattung zu Köln ging es hoch her und auch die Politik spielte hinein. So kritisierte der DJV die „Medienschelte von CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer scharf“. Dieser hatte zuvor im Deutschlandfunk geäußert, dass „es eine veröffentlichte Meinung gebe, die nicht die Realität widerspiegele, weil man meine, man müsse hier eine falsch verstandene Vorsicht an den Tag legen“ [Zitat aus der Pressemeldung des DJV]. Und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CSU, Friedrich, führte aus, mit „einem ‚Schweigekartell‘ und Nachrichtensperren lassen sich die Folgen der unkontrollierten Zuwanderung jedoch nicht lösen“. Er sagte darüber hinaus, dass der Verdacht bestehe, „‘dass die gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medien ihrem Informationsauftrag nur noch unzureichend nachkommen.‘“.
Der Bundesvorsitzende des DJV antwortete auf Vorwürfe gegen die Presse:
„Eine nicht durch solide Recherchen gedeckte Verdachtsberichterstattung ist nicht nur unvereinbar mit den Prinzipien des professionellen Journalismus, sondern auch innenpolitisch brandgefährlich.“ (Zitiert aus dem Tagesspiegel.) Er verwies darauf, dass Journalisten durch den Pressekodex verpflichtet seien, die religiöse, ethnische oder sonstige Zugehörigkeit von Tätern oder Tatverdächtigen nur dann zu nennen, wenn die für das Verständnis des Geschehens wichtig sei. Er fügte hinzu: „Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“
Der CDU-Politiker Jens Spahn ist Teil einer anderen Diskussionsrichtung und setzt den #aufschrei in Bezug zu den Kölner Vorfällen.
Wo ist eigentlich d #aufschrei, wenn es wirklich einen braucht? Bei Dirndlwitzen lautstarke Helden überall, jetzt aber betretenes Schweigen.
— Jens Spahn (@jensspahn) 5. Januar 2016
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Mit diesem Vergleich empört sich eine signifikante Menge an Nutzern über die vermeintlich harmlosen Vorfälle, die unter diesem Hashtag bei Twitter zu finden waren, und fordert, dass die gleichen Verfasser sich nun zu Köln äußern. (Eine kleine Anmerkung in eigener Sache: Eins der Grimme Lab-Dossiers wird sich mit Frauen im Netz befassen. In diesem Kontext wird das Thema Hass & Hetze dann auch den Aspekt der verbalen Angriffe auf Frauen im Netz beleuchten.) Zu den kritisch zu bewertenden Vergleichen zwischen den Vorfällen in Köln und dem #aufschrei äußern sich unter anderem Qantara und das Deutschlandradio Kultur.
Aufklärung für das Vertrauen
In dieser Situation beschließt der Youtuber MrWissen2go, in seiner „bürgerlichen“ Existenz der Journalist und Moderator Mirko Drotschmann, die 2016er Runde der Initiative YouGeHa (Youtuber gegen Hass) für ein Aufklärungsvideo zu nutzen, in dem er dem interessierten Zuschauer die tatsächlichen Aufgaben eines Journalisten nahebringt. Die Beschreibung zu seinem am 1. Februar 2016 veröffentlichten Video lautet: „Die Mainstream-Medien sind gesteuert, sie lügen und sie wollen die Bevölkerung gezielt in eine Richtung bringen. Das sind die gängigsten Vorwürfe gegen etablierte Zeitungen und Radio- oder Fernsehsender. Was ist dran?“ Und in seinem fast viertelstündigen Beitrag nimmt MrWissen2go sich einen Vorwurf nach dem anderen vor und erklärt, wie Journalisten arbeiten, welche Fehler warum passieren können und welche Mutmaßungen über Einflussnahmen und ähnliches in den Bereich von Verschwörungstheorien und Legendenbildung gehören.
Auch der Redakteur und Blogger Dennis Horn befasst sich im WDR-Blog Digitalistan genauer mit dem Vorwurf einer – wie er es selbst bereits in Anführungszeichen setzt – „von oben gesteuerten“ „Lügenpresse“. Er sagt:
„Wir brauchen Medien, die ihre Recherchen offenlegen, soweit es geht. Wir brauchen Journalisten, die den Dialog suchen und wissen, dass die Arbeit erst dann beginnt, wenn die eigenen Beiträge veröffentlicht sind. Wir brauchen eine ordentliche Fehlerkultur – allerdings auch das Verständnis, dass Fehler nicht auszuschließen sind.“
Gerüchte, Behauptungen und Angriffe, die von Einzelpersonen, also abseits der Veröffentlichungen von Journalisten, in sozialen Medien zirkulieren, sind Teil des Problems. Wenn diese dazu beitragen, dass sich die Atmosphäre in einer Diskussion immer weiter aufheizt, und wenn sich diese Behauptungen etc. nicht in Beiträgen etablierter Medien wiederfinden, wird recht schnell die Vermutung geäußert, dass es dies einer Absicht entspringt, gesteuert ist oder „von oben“ verordnet wurde. Und schon entsteht die schönste Verschwörungstheorie.
Dennis Horn setzt deshalb den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die Aufregung, die abseits der Mainstream-Medien im Netz bzw. in den sozialen Medien entstehen kann. Er sieht eine Mitverantwortung auch bei den Betreibern sozialer Netzwerke und ihren oft unzureichenden Nutzungsregeln sowie bei den Nachrichtenkonsumenten und Nutzern selbst. Er wünscht sich, dass Letztere nicht unreflektiert all das für bare Münze nehmen, was gerade irgendwo veröffentlicht wird, und im günstigsten Fall selbst gegensteuern. Er bringt das mittlerweile fast schon abgenutzte Schlagwort der „Medienkompetenz“ ins Spiel und verknüpft diese mit „journalistische[n] Kompetenzen: Zweiquellenprinzip, Quellenverifikation, Onlinerecherche“.
Die Beiträge der Preispublikation zum Grimme Online Award 2015 drehten sich im Kontext einer möglichen Glaubwürdigkeitskrise der Medien ebenfalls um Stichworte wie Trolle, Verschwörungstheorien und Extremismus.
Mit der Kompetenz in der Diskussion ist es nicht mehr so weit her: „Da werden Bericht und Kommentar miteinander verwechselt. Da wird mit Meinungen statt Fakten diskutiert. Da werden Inhalte geteilt, ohne sie auf ihre Plausibilität zu checken.“
Auf der Suche nach Ursachen
Auch die Perspektive der Leser(innen), Zuhörer(innen) oder Zuschauer(innen) ist eine Facette der „Vertrauenskrise“: Sind die Medien tatsächlich nicht mehr vertrauenswürdig? Oder verliert eine wachsende Zahl an Medienkonsumenten die Bereitschaft, den Dingen auf den Grund zu gehen? Oder das Urteilsvermögen, Meldung und Meinung voneinander zu trennen? Wird das Recht auf freie Meinungsäußerung verwechselt mit dem Willen, die eigene Meinung unwidersprochen äußern zu können? Wird der Umstand, dass Medien nicht oder anders über die Dinge berichten, die dem Konsumenten am Herzen liegen, als Steuerung, als Bevormundung, als Verschwörung gedeutet? Zunehmend ist eine von drei Haltungen zu beobachten – gerne auch in Kombination:
- Diese Meldung wurde von so vielen geteilt. Da muss etwas dran sein.
- Diese Meldung wird von denen veröffentlicht, den ohnehin nicht zu trauen ist. Das kann also nicht stimmen.
- Oder: Wenn ich eine von der „öffentlichen Meinung“ abweichende Haltung habe, darf ich diese ohnehin nicht äußern. Unangenehme Wahrheiten, die nur meine Mitstreiter und ich erkennen, werden in diesem Land unterdrückt. Aber: Man wird das doch noch einmal sagen dürfen!
Mein Produkt – ein Artikel, eine Reportage, eine Nachricht – kann perfekt und fehlerlos sein. Wenn mein potentieller Leser es ablehnen will, kann ich seine Anerkennung nicht erzwingen. Ich kann mir nur „vernünftige“ Mitstreiter suchen, die versuchen, der Fülle an Aufregungen und auch Falschmeldungen andere Stimmen entgegenzusetzen.
Es ist – bei allem gebotenen Pessimismus – allerdings auch möglich, gegenzusteuern: Erkenntnisse von Wissenschaftlern der University of Washington legen dar, wie sich die Zirkulation von Falschmeldungen bei Twitter wieder einfangen lässt. An zwei Beispielen wird beschrieben, wie Falschmeldungen und Gerüchte hochgekocht sind. Als sich „offizielle“ Stellen, in einem Fall eine betroffene Fluggesellschaft, im anderen die Polizei, mit Tweets einschalteten, war zu beobachten, wie schnell sich die Richtigstellungen im Netz verbreiteten.
Denn die Gefahr besteht, dass allein durch die heutigen Verbreitungsmöglichkeiten eine „Medienöffentlichkeit“ entsteht, die ihr Gesicht auch durch unendlich viele (ungeprüfte) Einlassungen von Einzelpersonen erhält. Wenn tausende von Menschen einen Beitrag teilen, macht ihn dies nicht wahrer: Die Methoden, mit denen heute aufs Einfachste Inhalte gefälscht werden können, sind nicht so schnell als solche zu erkennen.
Im Artikel „Medien im Umbruch – Das Ringen um Vertrauen und Glaubwürdigkeit“ vom 25.11.2015 des Deutschlandfunks beschreibt die Chefredakteurin der Berliner Zeitung die Konsequenzen eines „Nebeneinander[s] von Informationen“ (gemeint sind die Meldungen von Rundfunk und Presse sowie die Veröffentlichungen in sozialen Medien), die ein Grund dafür sein könnten, dass „der Zuspruch vieler Menschen für die etablierten Medien schwindet“.
Diese setzten Wortmeldungen in sozialen Medien gleich mit Presseveröffentlichungen. „Letztere aber prüfen vor einer Veröffentlichung – das ist jedenfalls ihre Aufgabe – jede Information auf Wahrheitsgehalt und Relevanz. ‚Wenn diese Wertung dann nicht den Werten entspricht, die diese Leute haben, dann empfinden sie das als Bevormundung – in dieser scheinbaren Vielfalt von Informationen, die es in der Welt gibt. Und ich glaube, die wenigsten Menschen machen sich klar, dass wir ja nicht bevormundend auswählen, sondern überprüfend auswählen.’“
Stephan Weichert, Professor für Journalismus und Kommunikationswissenschaft und geschäftsführender Vorstand des Vereins für Medien- und Journalismuskritik, spricht von der gescheiterten Erwartung von Journalisten an das Publikum, in diesem Fall: an die Kommentatoren, die ihre Meinung zunehmend harsch äußern. Die „Intensität und Dynamik, mit der sie ihre Meinungen seit geraumer Zeit kundtun, hat sich potenziert: ungefilterter, ungehemmter, ungestümer geht es derzeit“ zu.
Gedanken zum Thema „Hass & Hetze“ haben wir uns im gleichnamigen Artikel im Labor gemacht.
Er beschreibt die Hoffnung, die in ein qualifiziert partizipierendes Publikum gesetzt wurden und konstatiert, dass „aus dem Traum von der Schwarmintelligenz… ein Alptraum der Schwarmbosheit“ geworden sei. „Vor allem bei antisemitischen oder ausländerfeindlichen Netzdebatten zeigt sich, dass es in den Kommentaren nur so von Unwissen und etlichen Verschwörungstheorien wimmelt.“ Er sieht die Verantwortung dafür allerdings nicht nur auf der Seite der Nutzer, sondern auch im Journalismus selbst, der – auch bedingt durch kommerzielle Interessen – sich von den Nutzern eine „Armee eierlegender Wollmilchsäue“ gewünscht habe, die „Redakteuren einen Teil ihrer Arbeit abnimmt und sie am Ende dafür honoriert – das war die Idealvorstellung vieler Journalisten, bevor sie sich in die Abgründe der sozialen Netzwerke begeben haben“.
Der SPIEGEL fasst eine Allensbach-Umfrage zur Verlässlichkeit von Medien zusammen: Während mehr als zwei Drittel der Deutschen die Berichterstattung „im Großen und Ganzen“ für zuverlässig hielten, fühlten sich viele bei Beiträgen zur „Flüchtlingskrise“ „nicht angemessen“ informiert. „41 Prozent haben den Eindruck, dass kritische Stimmen ausgeblendet werden. Nur jeder vierte Zuschauer glaubt, dass ein realistisches Bild derjenigen gezeichnet wird, die zu uns kommen.“ Die FAZ, in deren Auftrag die Studie angestellt wurde, findet es „bemerkenswert, dass 39 Prozent der erwachsenen Bevölkerung finden, an dem von Pegida propagierten Vorwurf der ‚Lügenpresse’ sei etwas dran, Medien verdrehten Sachverhalte und verheimlichten wesentliche Informationen; in Ostdeutschland halten sogar 44 Prozent diesen Vorwurf für zutreffend“.
Viele Redaktionen allerdings bemühen sich um neue Strategien, um den konstruktiven Dialog mit den Nutzern aufrechtzuerhalten und den Einfluss von Hassrednern zu verringern. Ganz abbrechen wollen sie – so anstrengend der Umgang in den Kommentarbereichen sein mag – den Kontakt nicht: „Schließlich ist der Zensurvorwurf unter Nutzern ein Dauerbrenner, die Unterbindung der freien Rede und vor allem der Gegenrede wird von vielen als Eingriff in die Meinungsfreiheit und damit als Angriff auf unseren demokratischen Wertekanon interpretiert, der mehr Hetze und Pöbelei hervorruft und letztlich der Diskussion um die Lügenpresse neuen Auftrieb gibt.“
Ein weiteres Risiko ist eben auch im Kontext der wirtschaftlichen Situation von Verlagen zu sehen: Redaktionsstäbe werden verkleinert, freie Mitarbeiter werden nicht mehr im gleichen Umfang beauftragt, Lokalredaktionen schließen oder werden zusammengefasst (so dass sie zum Großteil mit den gleichen Nachrichten eines zentralen Anbieters ausgestattet werden); Journalisten müssen immer schneller liefern, um die sofortige Versorgung mit neusten Entwicklungen zu gewährleisten, die soziale Medien inzwischen als Standard zu fordern scheinen.
Bereits 2014 beklagte die Organisation „Reporter ohne Grenzen“:
„Die Zahl von Zeitungen mit eigener Vollredaktion hat weiter abgenommen; stattdessen liefern Reporterpools und zentrale Newsdesks gleiche Inhalte an verschiedene Zeitungen. Konkurrierende Printmedien sind in den meisten Regionen inzwischen rar.“
Reporter ohne Grenzen, Pressefreiheit weltweit 2016:
„Deutschland hat sich in der diesjährigen Rangliste um vier Plätze auf Rang 16 verschlechtert – eine Folge der stark gestiegenen Zahl von Anfeindungen, Drohungen und gewalttätigen Übergriffen gegen Journalisten.“
Die Verfasser fahren fort: „Den Einsparungen in vielen Redaktionen stehen Unternehmen und PR-Agenturen gegenüber, die ihre Inhalte gezielt in den Medien unterzubringen versuchen“, und legen dar, dass gerade in Regionalzeitungen der Anteil der Texte steige, die „gebrauchsfertig von Agenturen oder Pressestellen geliefert“ würden. Den Grund dafür sehen die Verfasser darin, dass „Redakteure … immer weniger Zeit [haben], zu recherchieren und Informationen zu prüfen“.
Die Initiative Nachrichtenaufklärung etwa gibt regelmäßig einen Überblick über die von den Mainstream-Medien vernachlässigten Themen von journalistischem Interesse. Auch der Verein Netzwerkrecherche und die gemeinnützige GmbH Correctiv wollen mit ihren Arbeiten kritischen und unabhängigen Journalismus stärken.
Auch solche Entwicklungen machen eine Auseinandersetzung mit dem „Zustand“ der Medien komplexer. Auf der einen Seite gibt es berechtigte Kritik und die Sorge um die Vielfalt der Medienlandschaft (ganz zu schweigen von der immer wieder dokumentierten versuchten Einflussnahme etwa von Lobbyisten); auf der anderen Seite eine an Diffamierung grenzende Aburteilung der Medien, denen vorgeworfen wird, eine fast schon staatlich gesteuerte Einheitsmeinung verbreiten.
Waren im Fall der Kölner Silvesternacht nun nach den Feiertagen nur spärlich besetzte Redaktionen, die ausschnitthaft veröffentlichten Polizeimeldungen oder die Reduktion des Themas auf eine bloß regionale Relevanz der Grund für eine verzögerte Berichterstattung der Medien? Oder der Wunsch, bestimmten gesellschaftlichen Gruppen nicht in die Hände zu spielen, die Angst vor Stigmatisierung von Flüchtlingen oder ein – wie ebenfalls wiederholt formuliert wurde – ein von den Medien selbstauferlegter Erziehungsauftrag?
Eine Steuerung von „oben“, sprich: von der Regierung zu vermuten, ist und bleibt gefährlich, da sich ein solcher Verdacht gegen ein grundlegend demokratisches Prinzip richtet: gegen die Vierte Gewalt, die öffentlichen Medien, also eine freie Presse als Instrument der nichtstaatlich gesteuerten Meinungsbildung.
Dieses Instrument gilt es in einem demokratischen Gefüge zu schützen. Kritik und Überprüfung auf Einhaltung der eigenen journalistischen Standards und Werte allerdings muss die Presse, müssen die Medien selbstverständlich aushalten.