Alles Mainstream?
Jugend- oder gar subkulturelle Bewegungen wie Punks, Hip-Hopper oder die Gothic-Szene haben über die vergangenen Jahrzehnte immer mehr an Bedeutung für die Identität von Jugendlichen verloren. In der Sinus-Studie 2016 wird daraus der Schluss gezogen, dass sich junge Menschen immer weniger von der Erwachsenenwelt abgrenzen und eher „mainstream“ sein wollen.
In der Presse wurde deswegen die Jugend von heute als „brav“, „überangepasst“ und „wenig rebellisch“ beschrieben. Dass sich Jugendliche immer weniger einer Szene zuordnen wollen, bedeutet aber weder, dass es solche Szenen nicht mehr gibt, noch, dass sie keinen Einfluss auf Jugendliche haben.
Das Portal Jugendszenen.com des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie der TU Dortmund beschreibt verschiedene aktuelle Szenen in ihrer Geschichte, Ausdrucksweise und Einstellung. Sie definieren sich vor allem über Kleidung (Beauty-Gurus), Musik (Metal) und Freizeitaktivitäten (Cos-Play), aber auch politische Ansichten prägen und unterscheiden die Szenen. Für manche stehen sogar die politische Ausrichtung oder ein bestimmtes politisches Thema im Vordergrund. Als junger Mensch Veganer(in) zu sein, bezieht sich zum Beispiel nicht nur auf die Ernährung, sondern geht auch mit Engagement gegen den Missbrauch von Tieren in der Kosmetikindustrie oder Zoos einher und ist damit auch eine konsumkritische Bewegung.
Das Streben nach einem ethisch korrekten Leben dehnt sich weiterhin auch auf Ablehnung von Formen der Diskriminierung und auf Ressourcenschonung in allen Lebensbereichen aus. Aber nicht nur die Identifikation mit einer Gruppe, sondern auch deren Ablehnung und die Abgrenzung von deren Kultur kann identitätsstiftend sein.
„In meiner Schule sind ein paar. Ich will jetzt nicht dieses Wort sagen. (…) Die sind so öko, aber die wollen auch nichts mit uns zu tun haben, das ist klar. Und wir wollen nichts mit denen zu tun haben.“ (Weiblich, 15 Jahre. SINUS Studie 2016, S. 112).
Eine Kultur wie die des Veganismus oder einen „Öko“-Lebensstil abzulehnen, bedeutet aber nicht im Umkehrschluss, sich einem entgegengesetzten Trend anzuschließen. Ältere, höher gebildete und weibliche Jugendliche ordnen sich seltener eindeutig einer Jugendkultur zu. Sympathien zu bestimmten Jugendkulturen sind aber zumindest bei Jüngeren unabhängig von Alter und Geschlecht zu finden (vgl. Manfred Zentner 2013: Jugendkulturelle Szenen).
Allerdings ist die Identifikation mit einer Jugendkultur heute weniger moralische und politische Rebellion gegen die Elterngeneration, sondern vielmehr ein anerkannter Bestandteil der Jugendphase. Zudem haben sich Jugendkulturen nach innen und außen differenziert und stehen entlang des globalen Medienstroms in einem internationalen Zusammenhang. Jugendkulturen funktionieren also nicht als abgeschlossene Schubladen, sondern Jugendliche bedienen sich aus ihnen und verorten sich zwischen unterschiedlichen Polen, um ihre Identität auszudrücken.
Die JIM-Studie 2015 zeigt, dass Games, Musikvideos und YouTube bei Jugendlichen angesagte Unterhaltungsmedien sind. Der komplette Piktochart findet sich hier.
Nie nicht-medial, aber nie rein virtuell
Medien und medial vermittelte Kommunikation sind in vielen Fällen Thema oder gar Dreh- und Angelpunkt von Jugendkulturen. Die Bedeutung von Musik und Musikvideos für die Verbreitung bestimmter Sprechweisen oder Kleidungsstile (z. B. Hip-Hop) zeigt das schon seit vielen Jahrzehnten.
Im Medienalltag Jugendlicher sind aber zusätzlich noch viele andere Medienkanäle relevant, die zum Ausdruck von Zugehörigkeiten, zur Information oder zum Austausch genutzt werden. Die Beauty-Gurus nutzen vor allem YouTube und Instagram, um mit ihren Followern zu kommunizieren (z. B. Bibi’s Beauty-Palace auf YouTube, Dagi Bee auf Instagram). Gamer streamen Live-Übertragungen von Computerspielen bei Twitch.tv, informieren sich über spezielle Podcasts und tauschen sich in Gaming-Communitys aus.
Schon die Wahl einer bestimmten Plattform oder eines Informationsmediums sagt etwas über die (jugend-)kulturelle Verortung aus (vgl. Wagner, Brüggen, Gebel 2009, S. 68). Zudem zeichnen sich die einzelnen Plattformen durch bestimmte Verhaltens- und Kommunikationsweisen aus, z. B das perfekt inszenierte Selfie auf Instagram oder Gamer-Jargon im Forum. Die medialen Produkte von Leitfiguren der jeweiligen Jugendkulturen greifen solche Sprechweisen oder Ausdrucksformen wiederum auf, verstärken und verbreiten sie.
35 Prozent der Jungen zwischen 12 und 19 Jahren unterhalten sich regelmäßig in Multi-User-Spielen (mpfs 2015, S. 32). Mehr zum Thema im Kapitel „Games und Gesellschaft“.
Gleichzeitig sind sowohl jugendliche Mediennutzung als auch die Zugehörigkeit zu Jugendkulturen stets auf den Austausch mit der Peergroup ausgelegt, das heißt, auf die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen (vgl. Wagner, Brüggen, Gebel 2009, S. 68-73). (Musik-)Videos werden im Social Web unter Freund(inn)en geteilt und Musik wird gemeinsam, z. B. auf Konzerten, gehört. Neueste (mediale) Ereignisse diskutieren die Jugendlichen in Chatgruppen und auf dem Schulhof. Hier erhalten Jugendliche, die sich von Jugendkulturen inspirieren lassen, auch Feedback zu ihrem medialen Geschmack, ihrer Kommunikationsweise und ihrem Aussehen. In der medialen Selbstrepräsentation besteht zwar mehr Raum, jugendkulturelle Affinitäten auszudrücken, dennoch ergibt sich meist eine Kontinuität zwischen Online- und Offline-Identität, und Freunde passen sich in ihrem Verhalten aneinander an – online und offline (vgl. Katie Davis 2014). Das heißt, erst durch diesen Austausch untereinander und durch die Vernetzung medial vermittelter und direkter Kommunikation von jugendkulturellen Affinitäten findet Identitätsbildung statt.
(Un-)Bewusst politisch
Die Geschichte der Skinhead-Kultur zeigt, wie fluide und divers der politische Unterton von Jugendkulturen sein kann. Die Skinhead-Szene wird heute vor allem mit rechtsextremem und rassistischem Gedankengut in Verbindung gebracht. Entstanden ist sie allerdings als Bewegung von Jugendlichen jamaikanischer Herkunft in Großbritannien, die sich in Arbeitervierteln auch unter weißen Kids weiterverbreitete.
Mehr zur Entwicklung und zur politischen Umdeutung der Skinheads im Dossier der BpB.
In den sechziger Jahren war die überwiegende Mehrheit der Musikidole der Skinheads schwarz. Gekapert wurde die Skinhead-Kultur von Neonazis, nachdem sich auch weiße Bands in der Szene etabliert hatten – und weil die Medien ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf rechtsradikale Vertreter(innen) und Gewaltexzesse der Skinheadkultur gelegt hatten, was die anderen Strömungen weniger sichtbar machte.
Sich an Symbolen und Praktiken anderer Jugendkulturen zu bedienen, ist auch heute ein probates Mittel politisch extremer Gruppen, um neue Sympathisanten zu gewinnen. Von rechts kopiert wurde z. B. das Auftreten der Anonymous-Bewegung, die aus der Hacker-Szene erwachsen ist und sich u. a. für ein freies Internet und gegen Zensur einsetzt.
Sie identifiziert sich neben dem Namen über die weiße Maske, die durch die Graphic Novel „V wie Vendetta“ bzw. durch den gleichnamigen Film zur populären Ikone wurde. Unter dem Titel „Anonymous.Kollektiv“ und einem Profilbild mit der weißen Maske treten nun auch Rechtsextreme im Netz auf und propagieren dort Meinungen, die u. a. bei Pegida zu finden sind.
Das „Netz gegen Nazis“ der Amadeo Antonio Stiftung betreibt Aufklärung und Radikalisierungsprävention, offline und im Internet. Ein Schwerpunkt liegt dabei darauf, mediale Strategien zu enthüllen. Noch mehr Projekte und Angebote zum Thema „Rechtsextremismus“ finden sich im Kapitel „Politische Bildung in der Schule“.
Ähnlich wie Anonymous, die zum Beispiel gezielte Spam-Attacken einsetzen, um ihre Vision von Freiheit in Netz und Gesellschaft zu verteidigen, ruft auch Anonymous.Kollektiv zu Online-Aktionen auf – in diesem Fall gegen „Mainstream“-Medien. Anonymous hat sich von Anonymous.Kollektiv klar abgegrenzt. Auch explizite Online-Aktionen gegen Pegida wurden bereits von Anonymous gestartet.
Ebenso nutzt auch der sogenannte Islamische Staat (IS) bei Jugendlichen beliebte Medien und popkulturelle Ikonographie, um für seine extremistische Ideologie und den Dschihad zu werben. Beispiele für solche Transfers listet die Broschüre „Extremistischer Salafismus als Jugendkultur – Sprache, Symbole und Style“ des Innenministeriums NRW auf: Die Propaganda-Videos bedienen sich der Optik von Action-Filmen und Ego-Shootern. Der deutsche Dschihadist Denis Cuspert war vor seiner Radikalisierung Gangster-Rapper. Und selbst an die Rockerszene erinnernde Kutten findet man in salafistischen Gruppierungen.
Jugendkulturen in der politischen Bildung – einige Beispiele
Nicht allen Jugendlichen ist die politische Dimension der Jugendkultur bewusst, der sie sich anschließen. Hier besteht die Möglichkeit, durch politische Bildung anzusetzen. Zum einen können Jugendlichen politisch-historische Wurzeln der Bewegung vermittelt werden, mit der sie sich identifizieren und dadurch z. B. Themen wie Rassismus und soziale Ausgrenzung angesprochen werden. Andererseits können aktuelle Entwicklungen kritisch hinterfragt werden, wie die Übernahme von Symbolen durch Rechtsextreme oder der Trend zu Frauenfeindlichkeit oder Gewaltverherrlichung in der Hip-Hop-Kultur.
„Denn Jugendkulturen bieten mehr als einen Sound oder ein Outfit, sie haben vielfach soziale und bürgerrechtliche Entstehungsgeschichten, an die auch heutige Jugendliche anschließen können – Geschichten, die man aber zunächst in Erinnerung rufen muss. Selbst diejenigen, die einer Jugendkultur anhängen, wissen zum Teil nur sehr wenig über deren Geschichte, kaum etwas über die Musiktexte und deren Bedeutung und noch viel weniger darüber, was diese eventuell mit ihren eigenen Lebenswelten zu tun haben könnten.“
Silke Baer, Harald Weilnböck und Peer Wiechmann in Aus Politik und Zeitgeschichte 27/2010.
In einem vollständig auf YouTube dokumentierten Contest suchte RAPutation.TV 2015 zum Beispiel bereits zum dritten Mal die besten politischen Rapper(innen) Deutschlands. Die Mittel des Hip-Hop werden genutzt, um auf Probleme wie Alltagsrassismus gegen Muslime oder Sexismus aufmerksam zu machen. 2013 wurde RAPutation.tv für den Grimme Online Award nominiert.
Die Rapperin Sookee aus der Jury von Raputation.TV erklärt in diesem Video, wie ihre Musik politisch wurde.
In der Casting-Staffel 2015 entstand mit den sieben Gewinner(inne)n der Track „Hörbar sichtbar“. Die jungen Musiker(innen) bringen teilweise eigene Erfahrungen von Diskriminierung oder Flucht mit ein. Während des kreativen Prozesses haben sie sich mit Gregor Gysi, Armin Laschet und weiteren Politikern ausgetauscht. Laschet formuliert im Making-of von „Hörbar sichtbar“ seine Anerkennung für die Ausdrucksform der Künstler(innen): „Hier habe ich heute gehört, wie dicht auch die Texte gemacht sind. Was das auch für eine künstlerische Leistung ist, in ganz kurzen, prägnanten Sätzen, in einem bestimmten Rhythmus politische Botschaften zu überbringen und davor hab ich alle Achtung.“
Ebenso wendet sich das Projekt gegen islamistische Radikalisierung via Hip-Hop. Die Abschlussveranstaltung der dritten Staffel widmete sich dem Thema „RAP & ISLAM“. Solmaz Sohrabi, die RAPutation.TV initiiert und konzipiert hat, erklärt im Interview mit ufuq.de: „Unser Ziel war es darüber zu sprechen, wie mittels der Annäherung von Rap und dem Islam, politische Bildungsarbeit aussehen kann, die sich zum Ziel macht, Vorurteile in der Gesellschaft abzubauen, gleichzeitig über den Islam aufzuklären und junge marginalisierte Gruppen wieder mittels der Musik zu integrieren.“ RAPutation.TV ist ein Projekt der UFA GmbH, das von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert wird.
Hacking und gesellschaftliches Engagement verbinden die Veranstaltungen von Jugend hackt unter dem Motto: „Mit Code die Welt verbessern.“
Auch die Hacker-Community kann als Jugendkultur beschrieben werden. Bewegungen wie Anonymous und die Piratenpartei zeigen, dass das Interesse für Internet-Technologie und Computerprogramme auch politisches Potenzial hat. In der politischen Bildung wird zum Beispiel das Tool „Hackasaurus“ (neu als WebMaker) eingesetzt. Es wurde von der Mozilla Foundation entwickelt und dient dazu, Grundkenntnisse im Programmieren zu erhalten, indem man bestehende Webseiten verändert. Was wie Manipulation klingt, ist eine Form, praktische Informationskompetenz und eine kritische Einstellung gegenüber Quellen zu entwickeln. Denn Nachrichten zu verfälschen und Webseiten oder Gruppen zu kapern, sind ja gerade die Strategien politischer Extremisten. Mehr zum praktischen Einsatz von Hackasaurus auf dem medienpädagogischen Blog pb21.de.
Der Verein Cultures Interactive e.V. bietet verschiedene Workshops an, die Jugendkulturen und politische Bildung verknüpfen. So werden im Comic-Workshop Mangas nicht nur gezeichnet, sondern auch ihr Bezug zu Politik und Weltgeschichte thematisiert.
Der Comic „Drei Steine“ über rechtsextreme Gewalt in Dortmund eignet sich zum Beispiel für den Einsatz in der Schule. Mehr dazu im Kapitel „Politische Bildung in der Schule“.
Cultures Interactive engagiert sich auch in Forschungsprojekten zu Jugendkultur und politischer Bildung. Aus der Erfahrung in Praxisarbeit und Forschung zeigt sich zum Beispiel, dass es nicht ausreicht, radikalisierenden Medienprodukten einfach mit Gegenerede („counter narratives“) zu begegnen. Harald Weilnböck, wissenschaftlicher Leiter der Forschungsprojekte bei Cultures Interactive, hält es für einen Trugschluss zu glauben, „dass, weil Radikalisierung so vehement online geschieht, auch eine vergleichsweise effektive Online-Deradikalisierung leicht möglich sein müsste“.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Medienangebote der politischen Bildung, gerade im Bereich der politischen Radikalisierung, in ein Offline-Setting zu integrieren, in dem ein Austausch auf der zwischenmenschlichen Ebene stattfinden kann. Diese Erfahrung deckt sich auch mit dem, was Jugendkulturen ausmacht, denn sie spielen sich nicht nur in Musik und Internet ab, sondern vor allem auch im persönlichen Kontakt unter denen, die diese Jugendkulturen pflegen.
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Veröffentlicht im September 2016